Flucht in die Kunstpause: „Ich hab die Nacht geträumet“ von Andrea Breth

Die Regie-Großmeisterin Andrea Breth zieht sich aus der Welt zurück und blättert im Berliner Ensemble durch ein musikalisches Poesiealbum.

Peter Luppa, im Koffer liegend, und Ensemble in einer Szene aus „Ich hab die Nacht geträumet“ von Andrea Breth im Berliner Ensemble.
Peter Luppa, im Koffer liegend, und Ensemble in einer Szene aus „Ich hab die Nacht geträumet“ von Andrea Breth im Berliner Ensemble.Imago

Mit grauen Wänden und einer Handvoll Türen löst Raimund Orfeo Voigt im Berliner Ensemble die logischen Dimensionen der Wirklichkeit auf. Für „Ich hab die Nacht geträumet“, die am Donnerstag zur Premiere gekommene poetische Collage der Regie-Großmeisterin Andrea Breth, hat der Bühnenbildner einen zugleich hermetischen und wandlungsfähigen Raum geschaffen: Irgendwas zwischen Bunker oder Kistenlager, Wohnzimmer oder Bürokomplex, Straßenschlucht oder untotem Puppentheater, Appellplatz oder Autobahntunnel – die zu bespielende Traumwelt legt sich nicht fest und ändert ihre Konsistenz, die Richtung der Schwerkraft, ihre Tiefe und Weite.

Dafür ist nichts nötig als fahrbare Wände und Verkleidungen mit unsichtbaren Fugen und Kanten. Ecken krempeln sich um, Notausgänge huschen ins Nichts, Vorder- und Hintergründe verkeilen sich, Fluchtpunkt, Brennweite und Fokus springen herum, als hätte Kafka den Bleistift geführt. Das in den Kostümen von Jens Kilian weiter aufgefächerte und punktuell kontrastierte Grau erlaubt in der durchkomponierten, sanften Licht- und Schattenführung von Alexander Koppelmann eine Pracht an Nuancen und Differenzierungen: Ein nur leichter Farbtemperaturabfall lässt eine biedermeierliche Atmosphäre, die einen Duft von Möbelpolitur und frisch gebackenen Brötchen zu verströmen scheint, in Sekundenschnelle ertauben, sodass man auf einmal den feuchten Zement und die Auspuffgase einer Tiefgarage zu riechen glaubt.

Eine die vierte Wand verschließende Gaze entrückt das Geschehen dahinter in eine leichte Unschärfe und Körnigkeit, die an Film erinnert. Die weichgezeichnete Welt scheint von Bücherstaub, Asche, Reif oder Edelschimmel überzogen – dem Schmelz der Poesie. Man möchte das eine oder andere Mal hineinpusten in diese scheinbar körperlosen Bilder und blutleeren Figuren.

Der Traum kennt keine spießigen Regeln

Andrea Breth macht seit einem halben Jahrhundert Theater und weiß, wie es geht. Allein das handwerkliche Können und Wissen nötigt Respekt ab, nicht nur dem Publikum, sondern zuvor schon den Gewerken und Werkstätten, die im Berliner Ensemble zeigen, was sie können. Dass die Regisseurin diesmal kein abendfüllendes Stück inszeniert, um sich in dessen Sinn- und Seelenschichten hineinzuarbeiten, sondern eine Auswahl aus laut Programmheft 500 literarischen Texten, Musik- und Fundstücken aus dem Internet zu einem Abend kombiniert, ist neu und deutet auf einen gewissen Überdruss und den Willen, mal auf den Großwerkanspruch zu pfeifen. Der erzählerische Bogen und die Figuren sind nur angedeutet, man darf sich als Zuschauer alles selbst zusammensetzen. Muss man aber auch nicht, denn man weiß, dass es sich um einen Abend über Träume und aus Träumen handelt. Und die Dramaturgie der Träume kennt keine spießigen Regeln von Kausalität, Chronologie oder Kohärenz.

Corinna Kirchhoff im Duett mit einem Spitz
Corinna Kirchhoff im Duett mit einem SpitzRuth Walz

Hier sei ausnahmsweise mal ein Satz aus dem Programmheft geklaut, in dem kein Hehl aus dem Wunsch gemacht wird, sich leise von der Welt abzuwenden: Die Inszenierung sei „eine unerklärliche Kunstpause in einer übermäßig lauten Welt, offen für das Schöne, Zärtliche und Gemeinsame, was möglich wäre – auch für das Lachen und Wünschen.“ Ja, Kunstpause trifft es sehr schön, aber zugleich bedient sich der Abend an dem, wovor er flieht. Die Unübersichtlichkeit und Fragmentierung der krisengeschüttelten Welt, die zerfetzte Gesellschaft, die verkümmerte Aufmerksamkeit der Individuen. Nur dass jegliche Bedrohung und Anfechtung ausgeblendet wird. Es ist, als blättere Breth während des Feierabends bei einem Weinchen durch ein wiedergefundenes Poesiealbum und schickt die Gedanken spazieren. Selbst Schwergewichte wie Paul Celan, Heiner Müller, Ingeborg Bachmann oder Fernando Pessoa flocken aus; Gedichte von Herta Müller, Erich Fried oder Thomas Brasch bekommen Seltsamkeitsbroschen angesteckt.

Das erinnert stimmungsmäßig entfernt mal an Christoph Marthaler, mal an Robert Wilson, zitiert die Welt von David Lynch, Ulrich Seidl und des No-Theaters, aber es bleibt verhuscht und verkünstelt. Man ist fast froh, wenn die Schauspieler mal beherzt zu ihren Mitteln greifen und Nummern aus ihren Auftritten machen, zugleich zerfällt der Abend in diesen Augenblicken erst recht zum literarisch-musikalischen Kulturprogramm.

Schön, wie das Weißclown-Gesicht von Johanna Wokalek sich auflöst und verschieft, wenn sie mit einem Weinglas in der Hand die französische Version von Eddie Cooleys „Fever“-Blues singt und sich dabei mit den Stöckelschuhen im Riemchen ihrer Handtasche verheddert – und doch bleibt ihr komödiantisches Talent immer ein bisschen ausgestellt. Martin Rentzsch verfügt über einen großen und gut polierten Besteckkasten der kabarettistischen Vortrags- und Verstellungskünste. Alexander Simon überzeugt mit einer sicheren Stimme, facettenreichem Chargenspiel und einer geschmeidig an einer Bananenschale vorbeigeschrittenen Version von Friedrich Hollaenders „Ich mache alles mit den Beinen“. Corinna Kirchhoff hat sichtlich Freude an diesem Abend und lässt am ehesten eine Figur erkennen, nämlich eine Frau, die sich nach vergeudeten Jahrzehnten an einer späten Weiche des Lebens wiederfindet, von der aus es noch einmal ganz woanders hingehen könnte – und auf einmal ist der Traum-Puma, vor dem sie auf der Flucht war, seinerseits vor ihrer zu lange gezähmten Libido nicht mehr sicher.

Dass in dem Papiergeraschel und Vorführkunstgestelze doch ab und zu einmal ein Lebensfunke aufflackert und etwas im Zuschauer berührt, ist sicher auch dem von der Komischen Oper ausgeborgten musikalischen Leiter Adam Benzwi zu verdanken, der sehr sparsam und diskret dem einen oder anderen Wort zum Flug verhilft. Dennoch: Die Melancholie des Abends wirkt einerseits angeschafft und andererseits unfreiwillig – und sie kommt als schlechte Laune mit nach Hause.

Ich hab die Nacht geträumet. Schauspiel mit Musik, 17., 28., 29. März, 25., 26. April jeweils 19.30 Uhr im Berliner Ensemble, Karten und Informationen unter Tel.: 28 40 81 15 oder www.berliner-ensemble.de