Mehr als „Ich bin, was ich bin“: Berliner Publikum bejubelt „La Cage aux Folles“

Berauschend inszeniert Barrie Kosky das lustige und nachdenkliche Musical voller Paradiesvögel an der Komischen Oper. Stefan Kurt brilliert als Zaza.

Stefan Kurt spielt in „La Cage aux Folles“ („Ein Käfig voller Narren“) in der Komischen Oper Albin/Zaza und begeistert mit dem Song „Ich bin, was ich bin“.
Stefan Kurt spielt in „La Cage aux Folles“ („Ein Käfig voller Narren“) in der Komischen Oper Albin/Zaza und begeistert mit dem Song „Ich bin, was ich bin“.Jens Kalaene/dpa

Also ehrlich – bei all den miesepetrigen Debatten um Gendersternchen, Unisex-Toiletten und Geschlechtsidentitäten ist irgendwie der Spaß am Verkleiden und Verstellen verloren gegangen, an Travestie und Rollentausch. Ja, der Spaß! Stattdessen haben wir heute diesen ewigen Bitterernst, wenn es um das Verhältnis von Männlein und Weiblein und allen dazwischen geht. Dass dies nicht sein muss, zeigt seit Sonnabend Barrie Kosky mit „La Cage aux Folles“ an der Komischen Oper.

Kosky, bis Sommer 2022 Intendant des Hauses, ist ein unwiderstehlicher Zauberer der gehobenen Unterhaltung. Bei diesem Musical kann der Stimmungsaufheller jetzt alle Kunststücke aus seinem Regie-Paillettenhut wirbeln. Gescheit war es jedenfalls, das Meisterwerk von Jerry Herman (Musik und Gesangstexte) und Harvey Fierstein (Buch) nicht zu aktualisieren, sondern der erzählerischen und musikalischen Kraft des Originals zu vertrauen: Ein junger Mann will heiraten, weshalb die künftigen Schwiegereltern seine Eltern kennenlernen möchten.

Ein homophober Politiker als Schwiegervater?

Ganz normal, möchte man meinen, nur sind die eben alles andere als normal: Der biologische Vater Georges ist ein schwuler Nachtclubbesitzer, die soziale Mutter sein Lebensgefährte Albin, als Travestiekünstlerin Zaza genannt. Die biologische Mutter hat sich nie um den Sohn gekümmert. Und der Schwiegervater in spe ist ein übler homophober Politiker, der rechtspopulistische Positionen vertritt. Wird die Liebe alle Hindernisse überwinden, werden die Kinder zueinander finden? Das sind eigentlich Fragen aus dem Groschenroman – aber es besteht ein gravierender Unterschied zu diesem: Schauplatz ist „La Cage aux Folles“, ein verrückter Nachtclub an der Côte d’Azur, den man sofort besuchen möchte, wenn es einem gut geht, und erst recht, wenn es einem schlecht geht. Dort gibt es nämlich die tollsten Shows, die besten Songs, die erotischste Atmosphäre.

Für Kosky und den Choreografen Otto Pichler lassen sich daraus pompöse, euphorische, atemberaubende Tanzszenen entwickeln, für die Klaus Bruns hinreißende Kostüme entworfen hat. Ob steppend, schmissig oder feuchtfröhlich, immer verbreiten die tanzenden Paradiesvögel rasant, schillernd und akrobatisch hemmungslose Lebenslust und grenzüberschreitenden Hedonismus. Das Bühnenbild von Rufus Didwiszus zeigt den Backstage-Bereich des Nachtclubs, das Appartement von Georges und Albin mit phallischem Inventar, ein Café unterm Sternenhimmel und psychedelisch verfremdete Riviera-Impressionen, die so bunt sind wie die Figuren, die sich darin tummeln.

Zwischen die Flitter- und Glitter-Nummern freilich haben die Autoren ruhige bis melancholische Szenen gesetzt, in denen die private wie gesellschaftliche Situation des gealterten Schwulenduos thematisiert wird. Die beiden lieben sich auch nach 30 Jahren noch und respektieren sich in ihrer Widersprüchlichkeit. Amüsant und subtil führt Barrie Kosky durch die Banalität des Alltäglichen und zugleich die Extravaganzen des Paares. Ihr Sohn ist im Prinzip wohlgeraten, doch plötzlich verlangt er, dass Albin für einen Tag verschwindet und die Rabenmutter anreist, um den Schwiegereltern ein heteronormativ intaktes Zuhause vorzuspielen …

„I Am What I Am“, diesmal nicht von Gloria Gaynor

Das verletzt Albin tief, und dann kommt der Moment, auf den an diesem Abend alle warten: Der grandiose Stefan Kurt wirft Fummel und Perücke ab und singt in Corsage und Stöckelschuhen: „Ich bin, was ich bin“. Und selbst wenn man diesen Song – „I Am What I Am“ – von Gloria Gaynor oder Shirley Bassey im Ohr hat, lernt man ihn jetzt erst richtig kennen, denn Koen Schoots ist ein wunderbar beschwingter Dirigent, der die Musik luzide wie empathisch interpretiert und mit Kosky nach der Geschichte hinter dem Stück sucht, nach den Gefühlen hinter dem Glamour.

Tanzende Paradiesvögel in „La Cage aux Folles“ in der Komischen Oper
Tanzende Paradiesvögel in „La Cage aux Folles“ in der Komischen OperMartin Müller/Imago

Zwar werden auch die Tuntenklischees kreischend-schrill bedient, wenn die Compagnie durcheinanderwirbelt oder wenn der kokett verspießerte Peter Renz als Georges dem Albin einmal echtes Machoverhalten mit breitbeinigem Dasitzen und martialischem Toastverzehr beibringen will. Vor allem aber wird ein Leben jenseits von gängigen Normen gefeiert, das genussvoll, sexy und überraschend ist. Dagegen haben Tom Eric Lie als der homophobe Politiker und Andreja Schneider als seine fast gehorsame Frau keine Chance, während Maria-Danaé Bansen als Tochter ihrem Jean-Michel (Nicky Wuchinger) begeistert in die Arme fällt.

Mehr als ein Ehrengast dieser berauschenden Inszenierung ist Helmut Baumann, 84 Jahre alt und in der Rolle der Restaurantchefin Jacqueline die formvollendet elegante Erinnerung daran, warum die leichte Muse so brillant sein kann. Er hatte 1985 die erste Aufführung des Stücks außerhalb der USA inszeniert, im Berliner Theater des Westens, und Albin/Zaza gespielt. Der Schlussapplaus war gewaltig, der Jubel prächtig, es schneite Konfetti, auf der Bühne wie im Saal sangen und schunkelten alle: „Die schönste Zeit ist heut / was kommen wird, wer weiß?“ Barrie Kosky ist zurück – und Berlin im Glück.

La Cage aux Folles, 3./5.2., 4., 8., 10., 12., 16., 18.3., Komische Oper, Tel. 030 47 99 74 00