Das geht nicht mehr ab: Jetzt klebt Hundekot an der Theaterkritik
Der sogenannte Hundekot-Eklat in Hannover wird seine Spuren hinterlassen. Was Marco Goecke der Kritikerin Wiebke Hüster und der Kritik überhaupt angetan hat.

Man muss als Kritiker sein ganzes, ohnehin schon knappes Wohlwollen zusammenkratzen, um bei diesem Skandal mildernde Umstände in Betracht ziehen zu können. Zum Beispiel gibt es eine klitzekleine Hoffnung, dass der Angriff des Choreografen Marco Goecke auf die Tanzkritikerin Wiebke Hüster vielleicht doch nicht mit dieser perfiden Vorsätzlichkeit vonstatten ging, wie es der gesunde Menschenverstand nahelegt. Der Direktor des Staatsballetts Hannover habe am Sonnabend laut übereinstimmenden Zeugenberichten und polizeilichen Ermittlungen die renommierte Kritikerin (u.a. für FAZ und Deutschlandradio) in der Pause einer Premierenveranstaltung in Hannover zur Rede gestellt, sie unter anderem dafür verantwortlich gemacht, dass Abonnements gekündigt wurden. Er habe sich demnach immer mehr in Rage geredet und schließlich zu einer mitgebrachten, mit Hundekot gefüllten Tüte gegriffen und den Inhalt der Kritikerin ins Gesicht gedrückt. Wiebke Hüster hat, wie sie der FAZ berichtete, geschrien und geweint, als ihr klar wurde, was ihr da passierte. Die Pressesprecherin des Hauses habe ihr geholfen, sich im Badezimmer der Intendanz zu reinigen. Danach habe sie Anzeige erstattet.
Was ist mit einem Menschen los, der extra Hundekot verpackt, mit sich führt, damit durchs Foyer spaziert und dann auf diese demütigende Weise zuschlägt? Goecke hat einen Dackel namens Gustav, wie der NDR weiß. Hat er ihn in der Pause kurz Gassi geführt, die Wurst ordnungsgemäß in ein laut Kotbeutelmitführpflicht zu Hand gehabtes Tütchen gefüllt und dann nicht gleich einen Mülleimer zur Entsorgung gefunden? Und als es zum Einlass klingelte, sah er sich gezwungen die ihm selbst sicher gar nicht ganz so widerlich erscheinenden Exkremente seines Lieblings provisorisch in der Sakkotasche verschwinden zu lassen, als ihm die Kritikerin über den Weg lief, die am Tag zuvor seine neue Choreografie in Den Haag durchaus mit schmerzhafter Deutlichkeit verriss, wenn sie sie auch nicht in Grund und Boden stieß, sondern ihr sogar noch ein paar positive Aspekte abgewinnen konnte? Hat vielleicht doch ein Künstler mit verletzter Seele im Affekt und aus dem Augenblick heraus gehandelt? Das wäre schlimm genug, aber vielleicht noch leichter zu verzeihen.
Solche mildernden Umstände macht die FAZ in ihrer Reaktion nicht geltend. Was den Umgang mit ihren Kritikern angeht, versteht das Blatt dankenswerterweise keinen Spaß. Sie spricht nicht nur von „einem gestörten Verhältnis eines Kunstschaffenden zur Kritik“, sondern weitet den Bedeutungsrahmen dieses Vorfalls aus. Er löse „auf erschreckend tätliche Weise ein, was in Kunstkreisen inzwischen offenbar häufig über Kritik und Kritiker gedacht und gesagt wird“. Es folgen drei Beispiele mit inzwischen geflügelten Worten. Kritik sei „Scheiße am Ärmel der Kunst“ (Karin Beier) oder der persönlich an eine Kritikerin adressierte Spruch des Schauspielers Benny Claessens: „Your time is over, Darling.“ Letzteres habe einen Mafia-Ton. Aber auch „hohe, von der Kulturpolitik hofierte Verantwortungsträger der Freien Szene wie Matthias Lilienthal und Amelie Deuflhard verfemen die Kritik unbekümmert als obsolet und rückschrittlich“, heißt es in einem ersten verständlicherweise sehr heißblütigen Kommentar. Kann schon sein, dass Widerworte lauter und rauer geworden sind.
Abgehoben und selbstbewusst

Erinnert wird in dem Text auch an einen Eklat der an Theaterskandalen eher armen jüngeren Theatergeschichte, nämlich an die Spiralblockaffäre. Der legendäre Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier fühlte sich 2006 von dem Schauspieler Thomas Lawinky angegriffen, der wiederum behauptete, auf Unmutsbekundungen des Kritikers reagiert zu haben. Lawinky entriss während der Vorstellung von Sebastian Hartmanns Inszenierung „Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes“ dem Kritiker den Spiralblock, blätterte darin herum, ohne etwas entziffern zu können. Stadelmaier verließ den Saal, läutete die Pressefreiheitsglocke. Lawinky kündigte seinen Vertrag, um einer Demission vorzugreifen, Claus Peymann versprach ihm Asyl im Berliner Ensemble. So weit, so unterhaltsam. Es folgte eine Debatte über das Selbstverständnis der Theaterkritik, die sich von heute aus gesehen seltsam abgehoben oder auch wohltuend selbstbewusst ausnimmt.
Im Vergleich zu dem Goecke-Angriff wirkt das harmlos, und es wird noch einmal deutlich, dass die damals zur Rettung des Abendlands gezückten Verteidigungswaffen und das Vokabular wohl doch etwas überdimensioniert erscheinen konnten. Aber vielleicht war es doch auch richtig, den Vorfall als eine Verletzung von Prinzipien darzustellen. Inzwischen haben das Theater und mit ihm die Theaterkritik weiter an Bedeutung verloren. Hinzu kommen die sozialen Medien und die etablierte Theaterplattform Nachtkritik.de, die mit ihren Antwortmöglichkeiten dem Kritiker das letzte Wort genommen haben. Widerspruch ist möglich, wenn auch nicht unbedingt hilfreich. Denn Adressat von Kritiken sind nicht Künstler, sondern die interessierten Leser.
Die Verwundbarkeit der Kritik
Nichts an Marco Goeckes Angriff ist harmlos, da können noch so viele gehässige Sowas-kommt-von-sowas-Kommentare gepostet werden. Er ist bereits am Montag suspendiert worden und erhielt auch ein Hausverbot, wie das Staatstheater Hannover mitteilt. Es fragt sich, welche Institution ihn wieder als Choreografen beschäftigen wird. Noch tiefer in den Sternen steht, wann wieder eine freie Kritik von Goeckes Arbeit möglich sein wird. Das hat er sich selbst zuzuschreiben, und das Mitleid hält sich in Grenzen. Er hat aber auch Wiebke Hüster beschädigt, nicht nur ihren Namen befleckt, den man wohl lange nicht mehr aussprechen wird, ohne an den Vorfall zu denken. Er hat sie dort verletzt, wo die Kritik verwundbar ist: bei ihrer Unbefangenheit und bei ihrem Mut zur subjektiven Wahrheit. Die Antwort kann nur Unverdrossenheit sein.