Theatertreffen 2023: Die neue Auswahl steht, das alte Herz bleibt

Das 60. Theatertreffen ist das erste unter neuer Leitung, darf aber im Kern so bleiben, wie es ist. Hier kommt die diesjährige Auswahl. Berlin jubelt doppelt 

Darauf hätte man wetten können: „Ophelia’s Got Talent“, die Volksbühnen-Inszenierung von Florentina Holzinger, ist eingeladen. 
Darauf hätte man wetten können: „Ophelia’s Got Talent“, die Volksbühnen-Inszenierung von Florentina Holzinger, ist eingeladen. © Nicole Marianna Wytyczak

Wenn mitten im Winter vormittags und unter der Woche die Korken in den Theaterhäusern knallen, dann weiß der Fachmensch: Die Jury des Theatertreffens hat bei der Pressekonferenz im Haus der Berliner Festspiele ihre Auswahl verkündet. Zehn Theaterinszenierungen aus deutschsprachigen Landen wurden von den sieben Mitgliedern nach legendär rücksichtsloser, leider geheimer Kampfdebatte zu den bemerkenswertesten des letzten Jahres erkoren. Wir kommen gleich zu den Ergebnissen, aber zuerst müssen wir die in diesem Jahr deutlich erhöhte Korkenplopperei erklären. Feiern kann nämlich, nach einem halben Jahr des Bangens, auch der Strukturkonservativismus. Der Wesenskern des Theatertreffens bleibt unangetastet.

Nach dem vorzeitigen Ausscheiden von Thomas Oberender aus dem Intendantenamt Ende 2021 entschied die damalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters recht schnell über dessen Nachfolge und stellte Matthias Pees vor. Pees ist ein agiler, krisenfester Kulturmanager, der zuletzt den Mousonturm in Frankfurt am Main gerettet hat. Sein Augenmerk liegt auf der freien Szene und sein Blick ist weit hinaus in die Welt gerichtet. Die Berliner Festspiele aber sind eine filigran durchstrukturierte Institution, unter deren Dach sich verschiedenste Kunstgattungen präsentieren. Ein feines Geflecht von Zuständigkeiten und Eitelkeiten, von Konkurrenz und Interaktion verbindet die jeweiligen künstlerischen Leiter. Beim Intendanten laufen die Konflikte zusammen, denn er unterschreibt die Verträge und verteilt Geld und Macht. Matthias Pees ist voller Respekt an die Aufgabe herangetreten, aber Gestaltungswillen hat er natürlich auch mitgebracht.

Neue Leitung, neue Ideen

Nachdem die ehemalige Leiterin des Theatertreffens, Yvonne Büdenhölzer, ihren Posten aufgab und mit ihr die Leiter des Internationalen Forums und des Stückemarktes gingen, setzte Pees ein internationales Leitungsteam ein, das sich um alle Festivalsparten gleichberechtigt kümmern sollte: die „Artivistin“, Regisseurin, Dramatikerin und Kuratorin Olena Apchel aus der Ukraine, die in Polen geborene und in Berlin aufgewachsene Produktionsleiterin Marta Hewelt, die deutsche Dramaturgin, Kuratorin und Dozentin Carolin Hochleichter sowie die polnische Kulturmanagerin Joanna Nuckowska, 13 Jahre lang Vizeleiterin des Nowy Teatr in Warschau.

Gleich bei ihrer Vorstellung im Sommer kommunizierten diese Neuen ihre noch wenig ausgegorenen Pläne, die aber konkret genug schienen, um den Theaterbetrieb in Angst und Schrecken zu versetzen. Man wolle das Sichtungsgebiet auf Osteuropa ausweiten und das dortige Theaterschaffen innerhalb des Zehnertableaus präsentieren. Damit wäre allerdings rein praktisch die Arbeit einer Kritikerjury verunmöglicht, die schon jetzt an der Grenze der Belastbarkeit operiert und dennoch von allen Seiten gescholten wird, weil sie zu viel übersieht. Und wie hätte sie die fremdsprachigen Theateraufführungen kompetent bewerten sollen? Die Idee, fünf der zehn Einladungen von Kuratoren aus den jeweiligen Ländern bestimmen zu lassen, lief auf eine Verwässerung des Prinzips Kritikerjury hinaus. Nun ist ein gutes halbes Jahr vergangen, und diese Ideen scheinen vom Tisch geräumt zu sein.

Die Auswahl des 60. Theatertreffens
Burgtheater Wien: „Die Eingeborenen von Maria Blut“ von Maria Lazar, Regie: Lucia Bihler
Theater Basel: „Ein Sommernachtstraum“ von William Shakespeare, Regie: Antú Romero Nunes
Schauspielhaus Bochum: „Der Bus nach Dachau“ von De Warme Winkel, Regie: Vincent Rietveld, Ward Weemhoff (De Warme Winkel)
Münchener Kammerspiele: „Nora. Ein Thriller“ von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch, Ivna Žic, Regie: Felicitas Brucker
Volksbühne Berlin: „Ophelia’s Got Talent“, Konzept & Regie: Florentina Holzinger
Burgtheater Wien: „Zwiegespräch“ von Peter Handke, Regie: Rieke Süßkow
Deutsches Theater: „Der Einzige und sein Eigentum“ nach Max Stirner, Regie: Sebastian Hartmann
Schauspielhaus Bochum: „Kinder der Sonne“ von Maxim Gorki, Regie: Mateja Koležnik
Residenztheater München: „Das Vermächtnis“ von Matthew Lopez, Regie: Philipp Stölzl
Theater Dessau: „Hamlet“ von William Shakespeare, Regie: Philipp Preuss

Die Änderungen, die verkündet wurden, betreffen das Corporate Design, die TT-Untersparten und das Rahmenprogramm, die nun anders justiert sind und anders heißen. Die Viererleitung hat zehn Treffen anberaumt, die das Zehnertableau „umrahmen, umgarnen und umarmen“ sollen, diese greifen aktuelle Diskurse auf und sollen die Welt reinlassen. Sie heißen Solidarity-, Herstory-, Diversity-, Transfeminist-, Green- oder Exchange-Treffen, und die bekannten Formate wie der Theatertreffenblog, die Preise, die begleitenden Diskurs- und Gastspielprogramme sind in diese zehn Theatertreffen-Treffen mit hineinrubriziert. Hier haben die vier Leiterinnen ihr eigenes Gestaltungspotenzial gefunden. Der Stückemarkt ist dabei, wie schon angekündigt, unter den Tisch gefallen.

Besagte Sektkorken sind also dem geretteten Herz des Theatertreffens und den Wonnen der Routine gewidmet, auch in dem Wissen, dass sich nun wenigstens diese eine der überflüssigeren Strukturdebatten erledigt hat und man die gewonnenen Kapazitäten dem Eigentlichen widmen kann, nämlich der Bühnenkunst, die sowieso immer mehr aus dem Blick zu geraten droht.

Und damit sind wir bei der Verkündung der zehn Gastspiele, die die Juroren Sascha Westphal, Katrin Ullmann, Petra Paterno, Janis El-Bira, Sabine Leucht, Eva Behrendt und Valeria Heintges für die 60. Ausgabe des Festivals (12. bis 28. Mai) ausgewählt haben.

Zahlen und Fakten

Berlin ist zweimal vertreten, geradezu von selbst versteht sich die Einladung an Florentina Holzinger, die mit „Ophelia’s Got Talent“ die Volksbühne gerockt hat, dazu kommt der Theatertreffen-Dauergast Sebastian Hartmann mit seiner Adaption von Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“, die er am Deutschen Theater zusammen mit PC Nackt als Musiktheater herausgebracht hat. Die Theatermetropolen Wien und München, aber auch Bochum sind ebenfalls doppelt vertreten. Mit jeweils einer Inszenierung reisen Basel und Dessau an (Details siehe Infokasten oder auf der Website der Berliner Festspiele).

Die Jury hat 461 Stücke in 58 Städten gesichtet, davon 33 in die Diskussion aufgenommen. Sieben der zehn Einladungen gehen an Theatertreffen-Newcomer, die Frauenquote ist in den Regiepositionen mit fünfzig Prozent eingehalten und soll auch weiter bestehen. Die Gesamtspieldauer liegt diesmal bei 25 Stunden und 15 Minuten bei Einzelwerten zwischen anderthalb und sechseinhalb Stunden. Der Startschuss für die Organisation der Gastspieleinladungen ist somit gefallen, und die neue Leitung kann sich verdient machen.