Theaterkritik: Wie liebt man einen Akrobatenschwarm?

Also spricht Fabian Hinrichs, der unerschrockenste Sinnhinterfrager unter den deutschen Schauspielern in der unerschrockensten Sinnhinterfrage-Kirche unter den deutschen Theatern, der Volksbühne: „Das Leben ist kein Stierkampf oder dauernde Extase.“ Och. Aber was dann? „Das Leben ist vielleicht ein Grillabend“, schlägt Hinrichs vor. Unaufregend, angenehm, anspruchslos.

Der Theaterabend von René Pollesch nimmt Rücksicht auf diese Erkenntnis, indem er die nach eigenen Angaben besten Szenen nicht zeigt. „Denn die könnten wir alle gar nicht ertragen.“ Daher der Titel des Abends: „Kill Your Darlings“. Statt dieser Szenen, die den Abend und die Gemüter der Zuschauer und Schauspieler − außer Hinrichs fünfzehn blutjunge Akrobaten in hautengen Geldschein-Trikots − aus dem Gleichgewicht brächten, werden Szenen gezeigt, „die einen nicht so aufregen.“

Fabian Hinrichs musste sogar zweimal die Souffleurin anranzen und den Abend unterbrechen, damit er nicht zu schön werde. Oder zu anstrengend. Oder zu aufregend. Oder zu plausibel. All dies, das kann bestätigt werden, ist dieser 70-minütige Monolog tatsächlich nicht. Obwohl.

Der Anfang hätte eigentlich wegen eines Übermaßes an Grandiosität gestrichen werden müssen: Da rumpelt mit unbeirrbarer Melancholie das Drumset von Bruce Springsteens „Streets of Philadelphia“ vor sich hin, die Stimme von Hinrichs ruft der Gruppe Mut zu, und dann springen sie aus dem Schnürboden und schweben (von Seilen gehalten, aber das ist jetzt mal nebensächlich) herab auf die leere, weite Bühne, wo die Akrobaten sofort ihre einwandfrei bedeutungslosen Turnübungen aufnehmen und Hinrichs mit freiem Oberkörper und glänzenden Pantalons mittenmang herumgaloppierend die romantische Springsteen-Ballade auf Deutsch singt.

Pollesch lässt Hinrichs diesmal mit gewohnt herrlicher Anliegen-Pose auf dem hässlichen Begriff Netzwerk herumkauen: das Netzwerk nicht nur als Gegensatz zum Subjekt, sondern auch als Gegensatz zum Kollektiv. Das Netzwerk, kriegen wir beigebracht, sei der erste Chor, der den Kapitalismus repräsentiere: ein indifferenter unverbindlicher Einheitsbrei von Pseudo-Individualisten, die so bunt sind, dass man nur noch Grau sieht. Und weil das so ist, geht das Subjekt, also Hinrichs, mit diesem Netzwerk auch nicht ins Bett.

Die Akrobaten sind davon ziemlich wenig beeindruckt, sie formieren sich zum Schwarm, zur Riege, zum Gruppenkörper und lösen sich wieder auf. Hinrichs lässt sich von dem Netzwerk durch die Gegend schleppen und herumschleudern, er lässt sich treiben im Akrobatenkörperschwarm, er erklimmt die Akrobatenkörpertreppe, fläzt sich ins Akrobatenkörpersofa. Und zum Dank nörgelt er mit Eifer an seinem tatsächlich desinteressierten Gegenüber herum. Ziemlich banaler Liebeskummer ist die Folge, richtiger Steinzeit-Liebeskummer mit der Warten-am-Telefon-Nummer.

Wer hätte gedacht, dass wir solche Sätze in einem Pollesch-Stück zu hören kriegen: „Wieso rufst du mich nicht an. Du hast doch meine Nummer. Ich sitze zu Hause rum und du bist nicht da.“

Ist das ein Pollesch-Paradigmenwechsel, weg von den bescheidwisserischen Theorie-Verwurstelungen hin zu unverstellt privaten Problemen, wie der hoch geschätzte Kritiker-Kollege, der dem hier schreibenden gegenüber sitzt, vermutet. Oder ist da nur eine künstlerische Resignation zum Vorschein gekommen, nachdem sich der Pseudo-Dialog zwischen Netzwerk und Subjekt als konfliktlos und also dramatisch untragfähig erwiesen hat, wie dem Berichtenden scheint. So oder so ist Pollesch irgendwie die Ironie ausgegangen. Das macht neugierig.

Kill Your Darlings 21., 26., 31. Jan., 4., 10. Feb., Volksbühne, Tel.: 24 06 57 77