Thilo Mischke: Die Berlinale ist überheblich und nimmt sich zu ernst, so wie Berlin
Trotzdem macht sie Besuchern Spaß. Auf Partys hoffen Schauspieler auf das Glück. Unser Kolumnist sucht nach dem Geist des Festivals in der Stadt.

In Berlin ist alles eine Kulisse, jede Ecke, jede Straße, jede Kreuzung erzählen stumm ihre Geschichten. In den Archiven und manchmal sogar an den Wänden von U-Bahnhöfen sehen wir Bilder einer Stadt, die heute so nicht mehr existiert. Eine Stadt im 19. Jahrhundert, von Kutschen befahren, und der Moder Brandenburgs an den Hacken hochnäsiger Preußen. Im 20. Jahrhundert der Tanz, dann Hitler, dann Zweiteilung. Es gibt so viel zu erzählen, so viel zu entdecken.
Wenn in Berlin Berlinale ist, also gerade jetzt, wenn Filmschaffende sich am Potsdamer Platz, auf Off-Partys oder bei Netflix treffen, dann wird die erzählerische Leistung jedes Viertels in Berlin mir wieder deutlich. Wenn ich den Berlinale-Bären auf Taschen in der U-Bahn oder Plakaten sehe, erinnert es mich an die Geschichten dieser Stadt.
Nicht nur in „Babylon Berlin“, nicht nur in „Weissensee“ oder „Das Leben der Anderen“, nein, diese Stadt erzählt so viele Geschichten. Während im Westen Didi Hallervorden mit Rollschuhen über den Kudamm fuhr, an dem Christiane F. sich selbst und die Welt, die sie ahnte zu kennen, aufgegeben hat, wurde im Osten das Gefühl, das man kurz vor dem Aufwachen aus einem Fiebertraum hat, erzählt.
Kurt Böwe in „Auszug ins Paradies“, der in einer Neubauwohnung über modernes Leben referiert. Ich erinnere mich an einen Film mit Sven Martinek als Bully in „Insel der Schwäne“, einem Film der Defa von 1983. Ein Meisterwerk. Ein Film, der mich diese Stadt hat spüren lassen. Die Jugend meiner Eltern erfahren lassen hat. Alexander Scheer in „American Showdown“, Kurzfilme aus den 2000er-Jahren dieser Stadt. Alles war noch möglich, doch für die meisten Berliner war es schon zu spät. Lola rennt, noch früher, in den 90ern, eine Stadt, gebaut auf Schutt und Abenteuerspielplätzen.
Ein Festival am hässlichsten Ort der Stadt
Jedes Jahrzehnt hat seine Filme in dieser Stadt. Seit es Film gibt, ist Berlin unsterblich. Weil wir uns jedes Jahrzehnt immer und immer wieder ansehen können.
Ich bin natürlich zu jung für Christiane F., Didi Hallervorden war schon Boomer Cringe, bevor es überhaupt Boomer und Cringe gab. Die DDR ist am Ende auch nur ein Luftzug in meinen Erinnerungen, kein Fundament.
Aber all diese Filme, die aus dieser, aus meiner Stadt erzählt werden, lassen mir diesen Ort lebendig erscheinen. Ich kann dank Defa und Didi in Zeiten reisen, die ich nur aus Erzählungen kenne.
Die Berlinale in Berlin mag ein eitles und oft kühles Stelldichein sein. Es mag am hässlichsten Ort dieser Stadt, dem Potsdamer Platz, stattfinden, aber es ist eben auch ein Festival, ganz im Geiste von Berlin.
Es ist überheblich, es nimmt sich oft zu ernst – und trotzdem bereitet es den Besuchenden Spaß. Es bereitete ihnen Freude, in Einkaufspassagen für Tickets anzustehen. Das geht jetzt nicht mehr, Tickets gibt es nur noch online. Die Schauspieler, die ich beobachten konnte, auf den Feten, mit leuchtenden Augen und der Überzeugung der oder die einzig Richtige zu sein, für diese eine Rolle. Da ist Hoffnung, da sind vergangenen Enttäuschungen vergessen. So wie Berlin eben. Immer Hoffnung; Enttäuschungen von früher: vergessen.
Erlebnisgastronomie für Berlin im Grill Royal
Die Verhandlungen um Filmstoffe, an Tischen in Restaurants, die Servietten aus Leinen anbieten. Die Aufregung der Tischreservierung im „Grill Royal“. Diesem Restaurant an der Friedrichstraße, das Berlin erfolgreich in Erlebnisgastronomie übersetzt hat. All das ist diese Stadt, dieses Festival, all das erinnert mich daran, wenn ich die Plakate sehe.
Und ich frage mich: Was für Geschichten wollen wir in Zukunft aus dieser Stadt erzählen? Welche Filme sollen meine Kinder und deren Kinder gucken, um Friedrichshain zu verstehen, Kreuzberg, die Träume und Ängste der Berliner? Ich hoffe, im hölzernen Herzen dieser Stadt werden auch diese Filme geplant. Werden verkauft und irgendwann gedreht.
Doch was sind die Geschichten der Gegenwart? Dieser Versicherungskaufmann aus Hakenfelde mit Bürgermeisterambitionen etwa? Ist es der Amazon-Turm an der Warschauer, die Eigentumswohnungen in der Revaler? Was sind die Geschichten der Gegenwart, die wir für bedeutsam erklären? Was passiert, wenn die Stadt keine Geschichten mehr erzählen kann, weil sie doch wie jede andere wird? Kann das in Berlin geschehen?
Ich frage mich das, während ich die Grünberger Straße entlang laufe, hier, in den letzten unsanierten Gebäuden wurde „Das Leben der Anderen“ gedreht. Ich stehe am Boxhagener Platz und denke an den verfilmten Roman von Torsten Schulz. Ich denke an meine eigene, erwachsene Geschichte, die hier, vor zwanzig Jahren, auf den Dächern der Häusern in Friedrichshain begann. Dieser Wunsch, von Berlin zu erzählen in Büchern, in Kolumnen, in Dokumentationen, in Podcasts, er entstand hier, in dieser Stadt. Die so viel zu erzählen hat, dass wir Bewohner unbedingt zuhören müssen.