Tim Mohrs „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft“ über die Punks der DDR ist ein fast wunderbares Buch

Es muss wie eine Erweckung gewesen sein in den zermürbenden Jahren der Pubertät. Plötzlich im Radio die schnellen, harten Klänge der Sex Pistols und Geschichten über diese neue Modewelle namens Punk zu hören, war in West-Deutschland als auch in der DDR die Initialzündung, sich einer Jugendkultur anzuschließen, die sich hervortat durch rotzigen Rock, der alles andere war als das Bombast-Gedudel und Middle-of-the-Road-Einerlei der Radiosender der 70er. Das Äußere wurde passend gemacht: Angefressene Haare und Kutten mit griffigen Slogans, alles musste kaputt sein, zerfetzt, ranzig, nihilistisch. Für diese Art von Teenager-Aufstand ging im Westens niemand in den Knast, allerhöchsten in elterlichen Arrest, meist gelegen in einem Reihenhaus der Mittelklasse. Der Sturm und Drang gegen den Konsensmief der 70er blieb Subkultur für Clubs und Jugendhäuser. Er verlor schnell an Biss und erledigte sich zur modischen Attitüde, Boutiquenlederjacke und Bravo-Reportage inklusive.

Verfolgt bis zur Ausbürgerung

Im Osten sah es ganz anders aus, hier war der Punk echte Subversion, die mit harten Repressalien geahndet wurde. Tim Mohrs Buch „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft“ ist der ostdeutschen Punkbewegung vor dem Mauerfall gewidmet und beschreibt mit großer Zuneigung die Punks der DDR, eine Jugendbewegung, die in Berlin, Leipzig und Dresden nicht mehr als ein paar hundert Menschen umfasste, deren Umtriebe dem Staat und seinen Sicherheitsorganen aber so gefährlich schienen, dass die Jugendlichen mit Gefängnis, Sanktionen bis hin zur Ausbürgerung verfolgt wurden. Mohr erzählt die Geschichte einzelner Punks des Arbeiter- und Bauernstaates, er hat die Dokumente selbst gesammelt, Interviews geführt, Stasi-Akten gesichtet und Zeitzeugen befragt, die jedoch leider selbst nicht zu Wort kommen.

Doch Mohrs Berichte von Jugendlichen mit Spitznamen wie Major, A-Micha oder Pankow sind berührende, zu Herzen gehende Dokumente des Unrechts. Es ist keine Neuheit, dass in der DDR Menschen für ihre nicht staatskonformen Ansichten bespitzelt und bestraft wurden, dass man für die Plastetüte mit dem Aufdruck einer Marke aus dem Westen Ärger bekam. Aber Mohrs Buch beleuchtet einen Aspekt der Repression, der zusätzliche Schärfe dadurch erhält, dass die jugendlichen Punks, halbe Kinder noch, in ihrer Isolation durch die Subkultur, die sie im Westen erfuhren und erfahren wollte, im Osten noch zusätzlich der Bestrafung durch den totalitären Staat ausgesetzt wurden.

Der amerikanische Journalist und Übersetzer Tim Mohr nimmt keine allwissende Haltung gegenüber seinem Stoff ein, nicht dieses Betrachten eines Phänomens eines untergegangenen Staates aus der überheblichen Brennglas-Perspektive eines Forschers. Mohr bleibt bei seiner erzählerischen Haltung, dem Sujet gegenüber angenehm distanziert. Die Geschichten alleine reichen ja auch schon aus. Wie die von Major. Sie war einer der ersten Punks Ost-Berlins, elektrisiert durch Berichte in der heimlich gelesenen Bravo der West-Verwandtschaft und der Musik der Sex Pistols im britischen Militärsender, erst vom harmlosen Punk zur Staatsfeindin mutiert und am Ende ausgebürgert, was den Mut und die Gefahr verdeutlicht, die es bedeutete, in der DDR Punk zu sein. Denn was Major, eigentlich Britta, wollte, war zu Beginn nicht aufzubegehren gegen den Staat, sondern einfach anders zu sein als die anderen. Und zwar auf Teufel komm raus, wie es eben so sein muss in der Pubertät.

Mut und Gefahr

Wo im Westen die Parole „No Future“ ausgeben wurde, da wollten die Punks in der DDR sehr wohl eine Zukunft, nur nicht die, die der Staat schon für sie vorgesehen hatte. Das „Punk sein“, kam hier per se einer politischen Haltung gleich. Während Punk im Westen diffus und apolitisch blieb, war im Osten das Feindbild beiderseitig klar: Punk versus Staat. Mit Folgen. „Sie wurden von der Polizei verhaftet, verprügelt, psychisch unter Druck gesetzt. Man sperrte sie in Jugendwerkhöfe, Irrenanstalten, Gefängnisse“.

Tim Mohr verfolgt die Geschichten um die Punks bis zum Mauerfall, die Überlebensgeschichte einer Subkultur, die bis zum Ende des Systems wohl an Kraft kaum verloren hat, als im Westen schon kein Hahn mehr danach krähte, wenn ein Jugendlicher mit bunten Haaren in der Sindelfinger Fußgängerzone dosenbierbesoffen rumkrakeelte. Man hätte gerne mehr gewusst aus dem Mund der Beschriebenen und auch, was aus all den Bands und Akteuren geworden ist. Ein paar blieben bei ihrer Haltung und prägten nach dem Fall der Mauer das Berliner Nachtleben und die Musikszene, manche kennt man heute noch – Rammsteins Christian „Flake“ Lorenz, den Berghain-Türsteher Sven Marquardt ...

Der Rest verliert sich in der Nachwendezeit, der Punk als Protestform schien offenbar nicht mehr nötig. Mit ein paar Jahren Verspätung erledigte er sich auch mit dem Fall der Mauer in Ostdeutschland.