Türkische Soap: Der peinliche Vorfahr
Unter den türkischen Soap Operas ist sie ein Verkaufsschlager. Die Fernsehserie „Mutesem Yüzyil“, übersetzt „Das prächtige Jahrhundert“, erreicht mehr als 150 Millionen Menschen in 76 Ländern, bricht im Nahen Osten alle Rekorde und hat auf Facebook 1,1 Millionen „Likes“. Bald geht die dritte Staffel zu Ende, und sie läuft und läuft …
Noch. Vor wenigen Tagen hat der türkische Abgeordnete Oktay Saral von der regierenden konservativen AK-Partei im Parlament ein Gesetz gegen die populäre Show eingebracht. „Anfang 2013“, so sprach der Abgeordnete, „wird ,Mutesem Yüzyil’ vom Bildschirm verschwinden.“ Die Verfälschung historischer Tatsachen könne in der Türkei nicht länger geduldet werden. Seither diskutiert die Türkei – wieder einmal – über die Grenzen der Kunst.
„Das prächtige Jahrhundert“ handelt vom Osmanensultan Süleyman dem Prächtigen, der im 16. Jahrhundert mit seinem Heer bis vor Wien zog, mehr Zeit aber im Palast verbrachte, wo er mit Intriganten kämpfte, Frauen eroberte und gern Rotwein trank. Das Gesetz, das die AKP Anfang des Jahres verabschieden will, soll Spott über „Ereignisse und Persönlichkeiten, die zu den nationalen Werten des Landes gehören“, unter Strafe stellen.
Der Abgeordnete Saral erweist sich als gehorsamer Diener seines Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der kürzlich bei der Einweihung eines Flughafens bekräftigte: Die Partei erhalte seit Beginn der Serie unzählige Zuschriften, die ein Verbot forderten. Das Programm sei schuld daran, dass Kinder ein falsches Bild ihrer Vorfahren bekämen. „So einen Süleyman kennen wir nicht“, befand Erdogan: „Ich verdamme die Regisseure der Show und die Eigentümer des Senders. Ich erwarte von der Justiz, dass sie die richtige Entscheidung trifft.“
Der bekannte Kolumnist Can Dündar schrieb dazu in der liberalen Milliyet, es sei doch merkwürdig, dass die Darstellung von Sultan Süleyman, der küsste, trank und mit Frauen schlief, als Beleidigung aufgefasst werden könne. „Hat denn der Sultan nicht geküsst, getrunken und geschlafen?“ Dass der Ministerpräsident eines starken und stolzen Landes sich überhaupt von einer kitschigen Soap Opera irritieren lässt, ist verblüffend. Die Posse wird sich, sollte sie Gesetzeskraft erlangen, ohnehin kaum mit EU-Recht vereinbaren lassen. Spott geht jedenfalls seit Tagen auf den Regierungschef nieder.
Später vorauseilender Gehorsam
Trotzdem hat die halbstaatliche Fluglinie Turkish Airlines in vorauseilendem Gehorsam die Serie bereits aus dem inländischen Bordfernsehen verbannt – zu spät jedoch, um ihre neue Bordzeitschrift noch zurückzuziehen, in der ganzseitig für die Serie geworben wird.
Das geschah nur Tage, nachdem die türkische Rundfunkaufsicht den Fernsehsender CNBC-E wegen der Ausstrahlung einer angeblich blasphemischen Folge der US-Zeichentrickserie „Die Simpsons“ mit einer 23 000-Euro-Strafe belegte. Darin serviert Gott dem Teufel einen Kaffee – zu gefährlich für türkische Kinder, entschied die Aufsicht. In einem Land, in dem der Premierminister eine TV-Serie für einen Dokumentarfilm halte, könne man wohl nicht erwarten, dass „ein Rundfunkkontrolleur eine Zeichentrickkomödie versteht“, urteilte Hürriyet.
Bisher hat die Multimillionen-Lira-Filmindustrie der Türkei kein Mittel gegen die staatlichen Tugendwächter gefunden. Dabei sind die Menschen in der Türkei offenbar so bigott wie anderswo auch. Sie wählen eine Partei (die AKP), die den Alkoholkonsum einschränken will, und trinken mehr als je zuvor. Sie geben vor, ihre Frauen zu lieben und prügeln sie doch heftiger. Und während sie die Serie „Mutesem Yüzyil“ angeblich verabscheuen, schießen die Einschaltquoten nach oben. In der Zeitung Hürriyet stellte ein Leser die Frage: „Warum nur kann Erdogan, statt TV-Serien zu verdammen, es nicht so machen wie der Rest von uns? Einfach die Fernbedienung benutzen?“