„Ideologisches Theater“ bei Anne Will: Warum keiner die ARD am Sonntagabend braucht
Nur fade politische Botschaften ohne Erkenntnisgewinn. Unser Autor findet, die Talkshow kann man nicht ertragen. Diesmal ging es um Autos, E-Fuels und die Klimakrise.

Der moderne Mensch geht an einem Sonntagabend vielleicht zukünftig besser in die Kneipe, als sich von der gebührenfinanzierten ARD berieseln zu lassen. Eigentlich ist diese Erkenntnis unter jungen und aufgeschlossenen Leuten längst bekannt.
Die Einschaltquoten der ARD sind zwar angeblich an einem Sonntagabend immer noch Bombe, aber wir alle wissen, dass dafür nur die Fernbedienungen in ein paar Tausend deutschen Haushalten auf 83 Millionen Bürger hochgerechnet werden. Ob das akkurat ist, müssen unabhängige Experten entscheiden. Aber man ist nicht gleich systemkritisch oder rechtradikal, wenn man bei so einer Praxis ein gesundes Misstrauen an den Tag legt. Man wird doch nochmal nachfragen dürfen.

Im Tatort ist immer der Immobilienunternehmer der Mörder
Aber lassen wir diese komplizierten technischen Details. Denn auch inhaltlich steht man dem Sonntagabend in der ARD vor und nach der Tagesschau mindestens gleichgültig gegenüber. Gegen die Tagesschau kann man ja nichts sagen, schließlich erinnert man sich an viel zu laute TV-Geräte, Leberwurst-Schnittchen und Fliegenklatschen (Pferde!) bei Oma in der Lüneburger Heide. War das damals schön!
Was allerdings nach 20.15 Uhr passiert, ist nichts mehr für den modernen Menschen. Der Polizeiruf 110 (das ehemalige „DDR“-Format) ist zwar oft etwas gehaltvoller als der Tatort, aber inzwischen werden die Drehbücher beider Crime-Formate von den Rundfunkräten so auf den kleinsten gemeinsamen Nenner weichgezeichnet, dass eigentlich - ganz wie im echten Leben - immer der böse Immobilienunternehmer der Mörder ist.
Ich glaube, dass der US-Privatsender HBO (u.a. „The White Lotus“) den öffentlich-rechtlichen Programmauftrag, den Zuschauern „umfassend und ausgewogen Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung“ anzubieten, inzwischen besser ausfüllt als ARD und ZDF. Zumindest ist es unterhaltsamer.
Und jetzt also die TV-Kritik der Talksendung von Anne Will. Es ist 21.45 Uhr. Wenigstens ist die ARD pünktlich. Was man von der anderen großen halbstaatlichen Organisation in diesem Land, der Deutschen Bahn, ja nicht behaupten kann. Pluspunkt für die ARD.

Dürfen wir noch guten Gewissens Autofahren?
Es geht los. Diesmal hat sich die Redaktion der Talkmasterin ein wichtiges Thema ausgesucht: „Auto oder Bahn, Tempo oder Limit – Steckt die Verkehrswende im Stau?“ Es soll heute also um die Verkehrswende und die Frage gehen, wie wir in Zukunft klimafreundlich reisen wollen, sollen oder müssen. Je nach politischer Couleur.
Eingeladen hat sich Anne Will für diesen Schlagabtausch Gäste, die auch unter der Woche die Schlagzeilen der Zeitungen bestimmen und deren politische Botschaft die meisten Zuschauer (zumindest gilt das berufsbedingt für den Autor) schon auswendig kennen. Diesmal nehmen an der Talkshow teil:
Ricarda Lang, Bundesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen, die unserer Zeitung am Wochenende ein langes Interview gegeben hat. Christian Dürr, Chef der FDP-Bundestagsfraktion. Thorsten Frei, Geschäftsführer der Unions-Bundestagsfraktion und ehemaliger Oberbürgermeister der Kreisstadt Donaueschingen. Robin Alexander, stellvertretender Chefredakteur „Die Welt“ und die linke Mobilitätsaktivistin und Autorin Katja Diehl.

Nur politisches Palaver, kein Erkentnisgewinn
Bevor wir in die inhaltliche Berichterstattung einsteigen, ahnt der Autor, dass die Kampflinie in diesem Debattengespräch wohl stellvertretend für die wichtigen genderpolitischen Fragen stehen wird. Denn hier treten die beiden weiß- oder zumindest grauhaarigen männlichen Politiker der FDP und Union gegen zwei junge, eher links orientierte Frauen an.
Und der Unparteiische Journalist Robin Alexander gilt mit seiner Glatze auch nicht als linker Grünenfreund. Ob die ARD dieses identitätspolitische Übergewicht von 3:2 so geplant hat? Steht es mit Anne Will 3:3? Oder musste die Moderatorin mit den Gästen leben, die sich am heiligen Sonntag überhaupt noch auf sowas einlassen? Der Familienmensch bleibt Sonntags jedenfalls meist auf dem Sofa.
Nachdem Anne Will mit der Hilfe von ein paar Einspielern, in denen die relevanteren Politiker wie Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) und seine Kollegin aus dem Umweltministerium Steffi Lemke (Grüne) zu Wort kommen, das Thema und den Koalitionsstreit schon umfassend erklärt, dürfen die anwesenden jetzt der Reihe nach ihre politischen Statements abgeben.

Es werden Studien zitiert, die keiner überprüfen kann
Christian Dürr (FDP) will den Autobahnausbau (auf bis zu 10 Spuren!) und sagt: „Wir müssen überall schneller werden.“ Seine Koalitions-Konkurrentin Ricarda Lang (Grüne) möchte, na klar, auch überall schneller werden, nicht aber beim Autoverkehr, sondern nur auf der Schiene und bei den erneuerbaren Energien: „Neue Autobahnen heizen die Klimakrise nur weiter an.“ Sie führt dazu „Studien“ an , die man auf dem Sofa natürlich nicht lesen oder überprüfen kann und die Talkmasterin flankiert mit einem saloppen „Teufelskreis“.
Jetzt ist die CDU dran. Die etwas knifflige Aufgabe, die Thorsten Frei in dieser Sendung meistern muss, ist, dass er der FDP, die ja in der Regierung sitzt, aber eigentlich bei der Verkehrswende das Gleiche wie die Union will, als Oppositionspolitiker trotzdem immer widersprechen muss. Das wirkt einstudiert. Jetzt ist aber erstmal Zeit für seinen Standardsatz: „Autobahnen sind Lebensadern der Wirtschaft.“ Das ist zwar ziemlich dämlich, aber falsch ist es auch wieder nicht. Schon in Ordnung.
Robin Alexander sagt das erste Mal etwas zum Streit in der Koalition. Einen Satz, der durchblicken lässt, dass man sich eigentlich hätte gar nicht treffen müssen: „Dieses Problem war klar, bei Abschluss des Koalitionsvertrages hätte man das schon wissen können.“ Sehr richtig. Generell ist der Welt-Journalist einer der kompetentesten und diszipliniertesten Talkshow-Gäste der Nation. Er sagt nur etwas, wenn er gefragt wird, und dann eigentlich nie dummes und redundantes Zeug.

Robin Alexander ist der einzige kompetente Gast
Anders als Dürr: „Unbürokratischer und schneller ist günstiger für den Steuerzahler.“ Richtig, Christian. Punkt gemacht. Jetzt kommt endlich ein wenig Ideologie dazu. Aktivistin Katja Diehl behauptet, auf dem Land wünschten sich die Leute Alternativen zum Auto. „Ich habe etwas gegen das Auto wie wir es aktuell benutzen“, sagt Diehl. Und auf ein Auto angewiesen zu sein, sei generell „gegen die Würde des Menschen“.
Und weiter: „Deutschland ist eine strukturschwache Region, wenn ich abhängig von einem Auto bin, was mehrere hundert Euro im Monat kostet.“ Man fragt sich allerdings, wie würdevoll die Menschen im 16. Jahrhundert zu Fuß von Küstrin nach Berlin gekommen sind. Jetzt entspinnt sich eine schöne ideologische Debatte. Ricarda Lang sagt auf Nachfrage von Anne Will, dass sie doch eigentlich „nichts gegen Autos“ habe.
Und Christian Dürr, das hat ihm sein Parteivorsitzender Christian Lindner in den Block diktiert, wirft erstmals stolz, als wäre es eine Weltpremiere, das Codewort „E-Fuels“ in die Runde. Ricarda Lang wird es jetzt zu bunt. Zur Not müsse man Verkehr eben mit dem „Ordnungsrecht“ bändigen. „Das hat sehr viel Bevormundendes“, beklagt sich Thorsten Frei von der CDU. Klar, das muss er jetzt sagen. So geht es ein paar Minuten weiter.
Bei Anne Will geht es nicht um den Zuschauer
Dann hat Robin Alexander wieder seinen kompetenten Auftritt und sagt die Sätze, die alles zusammenfassen und als generelles Kochrezept für gutes politisches Handeln gelten können. „Der schnelle Bau der LNG-Terminals nach dem Angriff von Russland, das hat doch geklappt. Jetzt müssen wir auch überlegen, dass das bei anderen Sachen auch immer klappt“, sagt er. „Stattdessen führen wir eine Diskussion: Dein Auto ist böse. Wir sind wieder auf einer Individualebene und das ist total schade.“ In Berlin werde das jetzt im Wahlkampf wieder gemacht, das sei „ideologisches Theater“. Amen.
Alle Politiker und auch die Aktivistin schauen jetzt ein bisschen betreten, ohne wirklich zu verstehen, dass der Journalist gerade ihr Grundproblem offengelegt hat. Ricarda Lang ist die jüngste in der Runde und reagiert am schnellsten: „Das ist generell eine Mammutaufgabe.“ Puh!
Am besten, Sie lassen den Fernseher ganz aus
In den nächsten Minuten wird dann weiter ohne Sachebene gestritten. Und das läuft zivilisiert ab. Denn Anne Will ist routiniert und behält den Überblick, dass auch alle im Sinne des Programauftrages schön ihre eingeübten politischen Botschaften abgeben können. Der Erkenntnisgewinn ist leider gleich null. Den Zuschauer im Blick hat bei der Sache höchstens noch Robin Alexander, obwohl er für Die Welt arbeitet und nicht für die ARD.
Um 22.30 Uhr wird dann das erste Mal geschrien. Christian Dürr, der FDP-Fraktionsvorsitzende ist der erste, der laut wird. Es geht wieder um die verdammten „E-Fuels“. Der Autor hat genug gesehen und bricht die Übertragung ab, macht sich ein Bier auf und scrollt noch ein bisschen durch Instagram, bevor er ins Bett geht. Seinen Sonntagabend wird er künftig wieder angenehmer gestalten. Und das sicher ohne Anne Will und die ARD.
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