TV Kritik zum ARD-Sechsteiler „Charité“ : Operation gelungen
Eine Glocke läutet jede Folge der ARD-Serie „Charité“ ein und mit einer Glocke wurden auch schon vor 130 Jahren die Mediziner in die Berliner Universitätsklinik gerufen. Allein dieses Detail zeigt, wie eng hier Fiktion und Historie miteinander verbunden, ja in Einklang gebracht werden sollen. Der Schauplatz dieser Krankenhausserie ist eben keine erfundene Sachsenklinik. Die begleitende Dokumentation nennt die Charité „das einflussreichste deutsche Krankenhaus“ und „Weltzentrum der Medizin“.
Eigentlich sollte „Charité“ eine mit Spielelementen angereicherte Dokumentation zum 300. Jahrestag der Gründung 2010 werden. Doch die Autorinnen Dorothee Schön und Sabine Thor-Wiedemann stießen bei ihren Recherchen auf so viele dramatische Wendungen und Konflikte, dass das Projekt immer größere Dimensionen annahm.
Die Handlung führt zurück ins Jahr 1888. In jenem Jahr war die Charité in die hohe Politik verwickelt, ihre Koryphäen zerstritten sich darüber, wie der gerade erst gekürte Kaiser behandelt werden müsse. Rudolf Virchow, der Gründer der modernen Charité (Ernst Stötzner) findet bei dem Monarchen keine Krebszellen – doch Friedrich III. stirbt nach nur 99 Tagen im Amt an Kehlkopfkrebs. Virchows Gegenspieler ist der Chirurg Ernst von Bergmann (Matthias Brenner), der den Kaiser nach seiner Diagnose lieber operiert hätte. Neben ihnen drängen drei Mediziner nach vorn, die später sämtlich den Nobelpreis erhalten sollten. Robert Koch (Justus von Dohnanyi) sucht verbissen nach einem Mittel gegen die von ihm entdeckten Tuberkeln. An seinem Institut wollen die beiden ehrgeizigen jüngeren Ärzte Emil Behring (Matthias Koeberlin) und Paul Ehrlich (Christoph Bach) ihre Forschungen voranbringen.
Männer mit Bärten
Ausgetragen werden diese Konflikte zwischen Männern, die allesamt gewaltige Bärte trugen und so optisch wenig Kontrast bieten. Frauen kommen, entsprechend ihrer damaligen Rolle, zunächst nur als Kranke und Krankenschwestern vor. Schwindsüchtige und schwangere Mädchen stehen Schlange an der Aufnahme. Die herrische Oberin (Ramona Kunze-Libnow) sieht die Aufgabe der Schwestern als Pflege und Sterbebegleitung – Charité heiße nun mal Barmherzigkeit. Tatsächlich wurden hier zunächst die Armen gepflegt, Begüterte ließen den Arzt zu sich nach Hause kommen. In der ersten Folge wird das soziale Elend der wachsenden Millionstadt weidlich ausgemalt und die Leute reden dabei ein so ausgeprägtes Berlinerisch, als wären sie allesamt den Zeichnungen von Heinrich Zille entstiegen.
Revolutionäre Not-OP
Inmitten der Kranken findet sich die eigentliche Heldin: Die Waise Ida Lenze (Alicia von Rittberg) kommt mit einer akuten Blinddarmentzündung in die Klinik und wird von Emil Behring gerettet – diese Notoperation war damals noch revolutionär. Überhaupt wird dem Zuschauer beim Zuschauen immer wieder deutlich, dass viele Selbstverständlichkeiten der heutigen Medizin, etwa die Hygiene, damals noch neu und fortschrittlich waren. „Ick finde Hygiene janz famos!“ ruft sogar die jungen Tingeltangel-Sängerin Hedwig Freiberg (Emilia Schüle), um den verehrten Robert Koch zu beglücken. Dass der populäre Professor sich für eine junge Sängerin scheiden ließ und sie heiratete, hätte sich wohl kein Drehbuchautor ausgedacht – war aber ein realer Skandal im Berlin.
Frauen mit Problemen
Neben der verbürgten Hedwig Freiberg bekommt die fiktive Ida Lenze im Laufe der Zeit immer mehr Eigenleben. Sie muss als Krankenschwester ihre Schulden abarbeiten und entdeckt ihr Interesse an der Medizin. Hier verbindet die Serie zwei erprobte Muster: Eine junge, hübsche Frau erobert eine Männerdomäne – und steht dabei zwischen zwei Verehrern. Sowohl der Medizinstudent Georg (Maximilian Meyer-Bretschneider) als auch Emil Behring interessieren sich für Ida. Doch diese Standard-Kombination funktioniert: Alicia von Rittberg führt den Zuschauer als Ida souverän durch die sechs turbulenten Folgen.
Die Inszenierung von Sönke Wortmann wirkt nicht historisch steif, sondern sehr lebendig. Die Kulisse wurde in Prag gefunden, dass mit ein paar geschickten Schwenks über die heutige Mitte zum Berlin anno 1888 gemorpht wird. Internationale Vorbilder, etwa Steven Soderberghs Krankenhausserie „The Knick“, die einem New Yorker Hospital um 1900 spielte und bei ZDFneo zu sehen war, zeigten die Mediziner-Alltag jener Jahre zwar noch weitaus drastischer und blutiger. Gegenüber den üblichen deutschen Ärzteserien wirkt „Charité“ aber deutlich herausfordernder und anregender auf Geist und Seele.
Während die ARD Dienstag Abend mit einer Doppelfolge und der anschließenden Doku einen „Charité“-Themenabend veranstaltet, werden die nächsten vier Folgen dann mit der sächsischen Krankenhaus-Soap „In aller Freundschaft“ kombiniert. Den Einschaltquoten dürfte dieses Kontrastmittel sehr zuträglich sein.