„Gesicht der Erinnerung“: Lieben wir immer wieder denselben Menschen?

Empfehlung: Die ARD zeigt Verena Altenberger in dem vieldeutigen Liebesdrama „Gesicht der Erinnerung“ von Dominik Graf. 

Szene aus „Gesicht der Erinnerung“ mit Judith Altenberger und Alessandro Schuster.
Szene aus „Gesicht der Erinnerung“ mit Judith Altenberger und Alessandro Schuster.Jacqueline Krause-Burberg/SWR/ARD

Sie rennt nachts in Salzburg vergeblich dem letzten Bus hinterher, er liest die Verzweifelte auf und fährt sie nach Hause. Die beiden sind sich zuvor schon in einem Club begegnet, wo Christina (Verena Altenberger) kurz zusammengebrochen ist. Patrick (Alessandro Schuster) ist deutlich jünger: Sie fragt ihn im Auto spöttisch, ob er überhaupt schon einen Führerschein habe, scheint ihn nicht besonders ernst zu nehmen. Doch Patrick bleibt hartnäckig: Er bucht einen Termin in ihrer Physiotherapie, und bevor er sich von ihr massieren lässt, spielt er ihr auf dem Keyboard eine Liebesballade vor. Kurz darauf liegen die beiden im Bett – doch Christina sieht immer die Bilder vom Sex mit einem anderen vor sich.

Nur selten werden Liebesdramen im deutschen Fernsehen mal außerhalb der engen Genregrenzen ausgereizt. Entweder werden sie als „verhängnisvolle Affären“ in einem Serienkrimi oder Thriller verheizt oder am Sonntagabend im ZDF nach dem Strickmuster von Rosamunde Pilcher oder Inga Lindström verkitscht. Auch die Freitagsfilme der ARD bleiben zu oft erwartbare Schmonzetten. Eine rare Ausnahme war vor einigen Jahren das Erotik-Drama „Sag mir nichts“ von Andreas Kleinert – und der Autor Norbert Baumgarten hat nun das ungewöhnliche Drehbuch von „Gesicht der Erinnerung“ verfasst. Auch der Name des Regisseurs garantiert Besonderes: Dominik Graf hat in den letzten Jahren für die ARD vor allem Krimis gedreht – darunter zwei herausragende „Polizeiruf“-Folgen mit Verena Altenberger als Münchener Kommissarin Bessie Eyckhoff. Die hohen Erwartungen werden erfüllt: Ob Buch, ob Schnitt, ob Musik – alles liegt auf anregende Weise neben den Fernsehkonventionen.

„Gesicht der Erinnerung“ entwickelt einen Sog wie ein Thriller

Das Drama „Gesicht der Erinnerung“ entwickelt dank seiner anfangs sprunghaften, fast ruppigen Montage sofort einen Sog wie ein Thriller. Die Romanze zwischen der Physiotherapeutin und dem etwa halb so alten Musiker hält sich nicht mit dem Altersunterschied auf, sondern bekommt schnell obsessive Züge. Denn Christina hat immer wieder Blackouts, sie ist in Behandlung bei einem Psychotherapeuten, der ihr Tabletten verordnet und dem sie von ihren Visionen berichtet: Das seien keine Gedanken, keine Fantasien, sondern Gefühle, als ob sie ein anderes Bewusstsein hätte. Immer wieder blitzen nämlich Erinnerungen an ihre dramatisch endende Affäre auf, die sie vor 20 Jahren mit einem verheirateten Mann (Florian Stetter) verbunden hatte.

Dieser Jakob war vor knapp 20 Jahren auf dem Weg zu ihr verunglückt oder bewusst gegen einen Baum gerast. Just an seinem Todestag ist ihr aktueller Liebhaber Patrick geboren, und zwar im selben Ort, wo Jakob starb. Das kann doch kein Zufall sein! Die junge Christina wird nicht etwa von einer mit Frisur und Maske verjüngten Verena Altenberger gespielt, sondern von ihrer jüngeren Schwester Judith – dieser Coup funktioniert verblüffend gut, wie auch die raschen Überblendungen zwischen den Zeitebenen.

Verena Altenberger beweist ihre Wandlungsfähigkeit und Wucht

Ungewöhnlich ist vor allem aber, wie offen und vieldeutig dieses Drama bleibt – und vieles bleibt auch offen. Denn obwohl Christina ihren jugendlichen Liebhaber immer mehr in ihre Jugendliebe verwandeln will, ihm sogar das gleiche Sakko kauft, ist sie beileibe keine krimigerechte Psychopathin, sondern eine hochsympathische, energiegeladene Frau, die gegen ein Trauma oder eine Krankheit ankämpft. Ihre Thesen, dass sich alles im Kreis drehe – „Was wäre, wenn der Mensch, den wir lieben, immer derselbe ist?“ –, sind auch keine esoterischen Reinkarnationsspinnereien oder bloße Einbildungen, wie ihr Therapeut vermutet, sondern elementare Fragen.

Verena Altenberger beweist wieder einmal ihre Wandlungsfähigkeit und Wucht. Bereits mit frühen Rollen, etwa als polnische Altenpflegerin in der RTL-Sitcom „Magda macht das schon“, zeigte sie ihr komisches Talent, erst jüngst demonstrierte sie im ARD-Actiondrama „Das Riesending“ unter Tage Härte und Kraft. Ihre Christina durchläuft eine dramatische Entwicklung von der Komik bis zur Tragik, ohne in Wehleidigkeit zu verfallen. Neben ihr hält wacker sich Alessandro Schuster, den viele noch als Sohn der Dresdener „Tatort“-Kommissarin Gorniak vor Augen haben dürften. Sein Patrick-Jakob muss ja auch eine gehörige Anziehungskraft mitbringen, um ein ebenbürtiger Wiedergänger für Christina zu sein.

Dieser besondere ARD-Mittwochsfilm jenseits der gängigen Genres fiel schon vor der Ausstrahlung auf: Sowohl beim Filmfest München als auch beim Festival des deutschen Films in Ludwigshafen war „Gesicht der Erinnerung“ für Preise nominiert, und der Autor Norbert Baumgarten bekam den Preis für das beste Drehbuch.

Gesicht der Erinnerung. Mittwoch, 8.2., 20.15, ARD