Dokumentationen aus einem Jahr Ukraine-Krieg: Kein Gräuel bleibt verborgen
Anlässlich des ersten Jahrestags der russischen Invasion zeigen ARD, ZDF und Arte diverse dokumentarische Formate. Die Bilder sind kaum zu ertragen.

Das Feuer des Bombenhagels, vom Fenster aus gefilmt. Eine ausgebrannte Ruine, die vor Stunden noch ein Wohnblock war. Ein tiefer Bombenkrater im Hof, wo eben noch die provisorische Kochstelle stand. Tote unter Planen, die bis vorhin noch Nachbarn waren. Die privaten Smartphone-Videos aus der Ukraine geben dem Krieg eine bisher nicht bekannte Direktheit. Noch nie wurde das zivile Leiden und Sterben so unmittelbar und so massenhaft dokumentiert. Dem bevorstehenden ersten Jahrestag der russischen Invasion widmet das öffentlich-rechtliche Fernsehen mehr als zwei Dutzend Reportagen – und viele bauen auf die Handy-Videos. Manches ist so schwer auszuhalten, dass Kinder und Jugendliche vorm Einschalten gewarnt werden.
Ukraine: 25.000 zivile Opfer in Mariupol
Die drastischsten Bilder liefert Robin Barnwells BBC-Reportage „Die Überlebenden von Mariupol“ (Arte/ARD), aus jener europäischen Stadt, die die meisten zivilen Kriegsopfer seit dem Zweiten Weltkrieg zu beklagen hat. Die ukrainischen Behörden gehen von mehr als 25.000 Toten aus. Die Überlebenden sind Frauen, die Unvorstellbares durchgemacht haben: Olga wurde verschüttet, ihr Mann starb zwei Meter neben ihr. Elena begrub ihren Vater im Garten. Ärztin Oksana musste nach dem Beschuss der Geburtsklinik eine tote Frau mit ihrem toten Neugeborenen in den Leichensack stecken – sie legte ihr das Kind unter die Brust. Lehrerin Hanna verbrachte zweieinhalb Monate mit ihrem Säugling in einem Bunker unter dem Asow-Stahlwerk. Viktoria wurde von ihrem russischen Vater aufgefordert, einen Kuchen für die „Befreier“ zu backen. Sie entgegnete: Lieber schneide ich denen die Kehle durch! TV-Moderatorin Alevtina filmte mit dem Handy einen „völlig lächerlichen Albtraum“ und lief mit ihren Kindern viele Kilometer zu Fuß, um dem Horror zu entkommen.
Im Film „Ukraine – Kinder im Krieg“ (Arte) dokumentiert Shahida Tulaganova den Weg von Familien aus Mariupol und anderen Kriegsorten. Zehn Kinder und ihre Mütter werden befragt, wie sie mit Krieg und Flucht umgehen. Die sechsjährige Kira verfällt selbst im sicheren Quartier immer wieder ins Flüstern. Ältere Jungs spielen „Checkpoint“ mit Spielzeug-Gewehren und drohen allen Russen, sie würden in Leichensäcken zurückkehren. Der 18-jährige Wjatscheslaw muss sich um vier jüngere Geschwister kümmern: Von einem Einkauf mit der Mutter war er allein und blutüberströmt zurückgekehrt.
Wie stark der Krieg selbst in vermeintlich sichere Landesteile ausstrahlt, das zeigt „Ukraine – Kriegstagebuch einer Ärztin“ (Arte/RBB). Hier kümmert sich die Anästhesistin Wira in Lwiw mit viel aufmunterndem Humor um Kinder, die von Granaten und Minen schwer verletzt wurden. In einer stillen Minute gesteht sie Autor Carl Gierstorfer, dass sie eigentlich keine Lebensfreude mehr spüre. Viele Schwerverletzte werden nach Deutschland gebracht. Diese medizinische Unterstützung, die auch in der NDR-Doku „Schwer verwundet. Ukrainische Kriegsopfer in deutschen Kliniken“ zu erleben ist, wird in den Panzer-Kampfjet-Debatten viel zu wenig gewürdigt.
„Heute kann man nichts mehr verbergen!“
Die privaten Videos belegen nicht nur Zerstörung und Leid, sondern dienen auch der Beweissicherung gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher. Die Autoren von „Anklage gegen Putin?“ (ARD), „Das Massaker von Butscha“ (ZDFinfo) und „Mord an ukrainischen Zivilisten“ (Arte) begleiten Reporter, Ermittler und Menschenrechtler bei ihren Recherchen und diskutieren die Chancen von Sondertribunalen. Anhand von Dramen wie dem Beschuss eines Wohnblocks in Isjum, bei dem 40 Menschen starben, oder dem Einsatz von Streumunition am Bahnhof Kramatorsk, der über 60 Opfer forderte, tragen die Experten Handy-Videos, Augenzeugenberichte und geolokalisierte Satellitenaufnahmen zusammen, um damit Ort, Zeit und Verantwortliche genau zu bestimmen. Mögliche ukrainische Kriegsverbrechen spielen am Rande eine Rolle, wie die Hinrichtung von gefangenen Soldaten. Staatsanwalt Claus Kress stuft diese in der ARD-Doku als Einzeltaten ein, während es auf russischer Seite klare Muster und Vorgaben gäbe. Die ZDFinfo-Doku über Verbrechen rings um Butscha spielt das Telefonat eines russischer Soldaten ein, der erklärt, alle Verdächtigen würden erschossen. Oleksij Danilov, Leiter des nationalen Sicherheitsrates der Ukraine, betont: „Heute kann man nichts mehr verbergen!“
Viel schwieriger ist es für TV-Reporter, Aussagen von russischen Soldaten zu bekommen. Denn wenn die Identität jenes Heimkehrers herauskäme, der vor der Kamera zugibt, mit einer Niederlage zu rechnen, weil die Soldaten nicht vorbereitet und schlecht ausgerüstet seien, würden ihm drakonische Strafen drohen. Aus diesem Grund bleibt auch die Autorin der Arte-Doku „Russlands Heimatfront“ anonym, die frühere Freunde in ihrer Heimatstadt Pskow besucht. Ihr Bericht zeigt, dass die Kriegsrealität über die sozialen Medien längst nach Russland dringt, welchen Schock die ersten Mobilmachungen auslösen und mit welch hohlem Sowjet-Pathos die immer zahlreicheren Gefallenen als „Helden“ beerdigt werden.
Die Arte-Reportage „Russlands Soldaten – Wie sie den Krieg in die Heimat bringen“ reist nach Ulan-Ude ins weit entfernte Burjatien – diese Region verzeichnet besonders viele Gefallene. Ein Heimkehrer, der sich „Dschingis“ nennen lässt, berichtet erstaunlich offen vom Einmarsch: „Ich hatte sofort das Gefühl, als wäre ich ein Deutscher im Sommer 1941!“
Putin: „Es ist nicht unser Ziel, ukrainische Territorien zu besetzen“
Um die historische Deutung des Krieges geht es immer wieder. So analysieren Christian Kähler und Saskia Geisler auf Arte die „Propagandaschlacht um die Ukraine“ und zeigen, wie gegensätzlich die verschiedenen Seiten arbeiten. In einer „Graswurzelkommunikation“, die nicht von oben gesteuert wird, spielen die Videos ukrainischer Zivilisten eine zentrale Rolle. Den offiziellen Ton aus Kiew gab bis zu seinem kürzlichen Rücktritt der Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch an, der in seinem lockeren Videochat zum „Psychotherapeuten der Nation“ wurde. Experten erkannten bei ihm ein „popkulturelles Referenzsystem“, das dank seiner Zitate aus Film und Musik international verstanden würde.
Dagegen richtet sich der Kreml-Propagandist Wladimir Solowjow nur an die eigene Bevölkerung. In einer Feldherrenjacke steht er wie ein General vor frischen Rekruten und beschimpft Gegner als „bösartige erbärmliche Freaks“, „Nazi-Schweine“ oder „SS-Bastarde“.
Den entgegengesetzten Ansatz der Kommunikation zeigt auch der Film „Das Duell: Selenskyj gegen Putin“ (Arte/ARD) auf. In Kiew ein rhetorisch beschlagener Mann, der geschickt mit den sozialen Medien spielt, sich mit dem Handy unter seine Soldaten mischt und der einen Tag vor dem Überfall ankündigt: „Wir werden uns verteidigen. Ihr werdet nicht unsere Rücken, sondern unsere Gesichter sehen.“
Im Kreml sitzt dagegen ein Mann, der sich zwischen einer Batterie von Telefonen als einsamer Machthaber präsentiert, der sich nie an die Front wagt und der am 24. Februar verkündet, dass er die Ukraine entmilitarisieren und entnazifizieren wolle, dabei aber gleichzeitig betont: „Es ist nicht unser Ziel, ukrainische Territorien zu besetzen. Wir werden niemandem irgendetwas mit Gewalt aufzwingen.“ Fast jede Doku zitiert diese zynischen Sätze, die nicht mehr kommentiert werden müssen.
Ukraine – Krieg im Leben. Montag, 13. Februar, 20.15 Uhr, ARD
Anklage gegen Putin? Montag, 13. Februar, 22.50 Uhr, ARD
Das Duell: Selenyskyj gegen Putin. Montag, 13. Februar, 23.35 Uhr, ARD
Schwer verwundet. Ukrainische Kriegsopfer in deutschen Kliniken. Montag, 13. Februar, 22.00 Uhr, NDR
Propagandaschlacht um die Ukraine. Dienstag, 14. Februar, 21.45 Uhr, Arte
Meine Stimme für die Ukraine. Samstag, 18. Februar, 15.10 Uhr, Arte
Ukraine – Kinder im Krieg. 18. Februar, 16.20 Uhr, Arte
Kriegsverbrechen auf der Spur. Dienstag, 21. Februar, 19.40 Uhr, Arte
Die Überlebenden von Mariupol. Dienstag, 21. Februar, 20.15 Uhr, Arte
Ukraine – Krieg und Frieden. Dienstag, 21. Februar, 21.45 Uhr, Arte
Russlands Heimatfront. Dienstag, 21. Februar, 23.05 Arte
Der innere Krieg. Dienstag, 21. Februar, 00.00 Uhr, Arte
Krieg gegen die Ukraine – Chronik eines Konflikts. Mittwoch, 22. Februar, 22.30 Uhr, ZDFinfo
Das Massaker von Butscha – Russlands Kriegsverbrechen auf der Spur. Mittwoch, 22. Februar, 23.15 Uhr, ZDFinfo
Russlands Soldaten: Wie sie den Krieg in die Heimat bringen. Freitag, 24. Februar, 19.40 Uhr, Arte
Stimmen aus dem Krieg – Ukraine 2022. Freitag, 24. Februar, 23.05 Uhr, ARD
In der Arte-Mediathek: Ukraine – Kriegstagebuch einer Kinderärztin (am 27.2. um 22.45 im RBB)
In der ZDF-Mediathek: Weinen werden wir später – Junge Ukrainer im Krieg