Ein Kommentar über die Feigheit: Israel brennt und Deutschland guckt zu

Seit Monaten demonstrieren wöchentlich Israelis, zugleich eskaliert die Gewalt im Westjordanland. Doch Deutschland schweigt. Unser Autor sagt: Schluss damit!

Israelische Polizisten versuchen, Demonstranten während einer Demonstration gegen das umstrittene Justizreformgesetz der Regierung in Tel Aviv am 09. März 2023 zu vertreiben. 
Israelische Polizisten versuchen, Demonstranten während einer Demonstration gegen das umstrittene Justizreformgesetz der Regierung in Tel Aviv am 09. März 2023 zu vertreiben. JACK GUEZ/AFP

Seit über zwei Monaten brennt Israel. Das kleine Land erlebt dieser Tage die heftigsten Demonstrationen seiner Geschichte. Kleine, rechtsextreme Parteien wie Ha-Ichud HaLeumi und Otzma Yehudit haben vom israelischen Premier Benjamin Netanjahu disproportional viel Einfluss erhalten, damit eine Koalition zustande kommt und Netanjahu so dem Prozess entgehen kann, der noch immer gegen ihn läuft. Die genannten Parteien, neben der die AfD wie die Berliner Grünen klingen, zelebrieren es.

Untypisch schnell arbeiten sie daran, der israelischen Judikative Macht zu entziehen. Bisher konnte das Oberste Gericht Israels gegen die vom Parlament verabschiedeten Gesetze Veto einlegen, wenn es sie für verfassungswidrig hielt. Niemand wäre so begeistert, dem Obersten Gericht Israels jenes Recht zu entziehen, hätte man nicht längst verfassungswidrige Gesetze im Kopf, die es umzusetzen gilt. Während ich diese Zeilen schreibe, wird im israelischen Parlament gerade die Todesstrafe diskutiert. Die rabbinischen Gerichtshöfe erhalten zudem Autoritäten über zahlreiche Bereiche der Zivilgesellschaft.

Kurz, die israelische Demokratie wird zerstört. Und Israels beste Freundin, Deutschland? Schweigt. Der Zentralrat der Juden hierzulande traf sich hierzulande, wie auch Außenministerin Baerbock, jüngst mit dem neuen israelischen Außenminister dieser neuen Regierung, Eli Cohen. Man machte lächelnde Fotos. Man legitimierte somit eine Koalition, die in Israel gerade unglaublich viel Schaden anrichtet. Man legitimiert eine Koalition, gegen die von Holocaustüberlebenden über die Tel Aviver Hightech-Klasse bis zu Studierenden alle auf die Straßen gehen.

Deutschlands besondere Verantwortung

Deutschland hat keine besondere Verantwortung gegenüber Israel. Deutschland hat Jüdinnen und Juden in die Konzentrationslager geschickt, nicht Israel. Den Jüdinnen und Juden – und somit, wenn man so will, auch zahlreichen Israelis – gegenüber hat Deutschland aber durchaus eine besondere Verantwortung. Nicht gegenüber einem von rechtsradikalen Kräften geführten Staat. Viel zu oft vergisst man das in Deutschland. Es wirkt, als nutze man die Politik der Wiedergutmachung, um ansonsten versteckte Affinitäten für erstartkten Nationalismus wieder offen zeigen zu dürfen.

Vor knapp über einer Woche randalierten radikale Siedler in der palästinensischen Kleinstadt Huwara im Westjordanland. Sie zündeten Häuser und Autos an, schlachteten Schafe. Am Tag drauf sagte Israels Finanzminister Bezalel Smotrich, es liege in der Hand des Staates, Huwara auszulöschen, nicht in der von Privatpersonen. Die US-amerikanische Regierung hat daraufhin deutlich gemacht, dass Netanjahu sich von Smotrichs Aussage distanzieren solle. Jüdische Organisationen in den USA appellierten an das State Department, um Smotrichs US-Visum aberkennen zu lassen. Sie verstehen, dass die Verbindung, die einige zwischen ihnen und dieser Regierung ziehen, ihnen schaden wird. Und in Deutschland? Blankes Schweigen.

Hunderttausende Israelis verlassen derzeit ihren Arbeitsplatz und gehen auf die Straße. Die Polizei, deren neuer Minister der ehemalige jüdische Terrorist Itamar Ben Gvir ist, nutzte erstmals Blendgranaten (ein Demonstrierender in Tel Aviv verlor sein Ohr). Der Zentralrat der Juden in Deutschland schweigt. Jüdisches Leben ist offenbar nicht wichtig genug, um dafür die viel wirkmächtigere Idee eines jüdischen Nationalismus zu opfern.

Männer gehen in Huwara an verbrannten und zerstörten Fahrzeugen vorbei. Nach einem tödlichen Anschlag auf zwei Israelis war es dort zu schweren Ausschreitungen radikaler, israelischer Siedler gekommen.
Männer gehen in Huwara an verbrannten und zerstörten Fahrzeugen vorbei. Nach einem tödlichen Anschlag auf zwei Israelis war es dort zu schweren Ausschreitungen radikaler, israelischer Siedler gekommen.Foto: Ilia Yefimovich/dpa

Ein blinder Flick der Demos: Palästina

Ein Problem aber bleibt mit den Demos in Israel. Weshalb demonstrieren Menschen in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem gegen die Entdemokratisierung und für die Beibehaltung der Gewaltenteilung in Israel, gegen polizeiliche Nutzung von Blendgranaten, gegen die Gewalt der Siedler, nicht aber für die Palästinenser:innen, die diese Themen zeitgleich auf ihren Straßen im Westjordanland austragen?

Das ist der große blinde Fleck der israelischen Demos: die Idee, man könne staatliche Gewalt skandalisieren, während in den besetzten Gebieten Gewalt gegen Palästinenser:innen ausgeübt wird. Hier in Deutschland scheint man das zu verstehen, auf staatlicher Ebene sowie in den Institutionen der jüdischen Gemeinde: Wenn man Jüdinnen und Juden in Israel bei ihren Demos unterstützt, müsste man morgen erklären, warum es in Ordnung sein soll, wenn dasselbe, wogegen da demonstriert wird, wenige Kilometer entfernt den Palästinenser:innen angetan wird. Und warum sie schon seit über 55 Jahren unter militärischem Gesetz leben, wo es offensichtlich keine Gewaltenteilung gibt, wo jeglicher Protest illegal ist.

Ein roter Faden verbindet den palästinensischen Kampf für Freiheit von illegaler Besatzung mit den Demos der Israelis gegen die Entdemokratisierung ihres Landes. Das große Unverständnis vieler israelischer Demonstrant:innen bezüglich dieser Verbindung ist eklatant. Wenn man diese Verbindung nicht zieht, wird es schwierig, den antidemokratischen Tendenzen effektiv entgegenzutreten.

Ob man in Deutschland überhaupt noch daran interessiert ist, dass es in Israel-Palästina einmal gut wird? Wollen das deutsche Jüdinnen und Juden? Dieser Tage wirkt es nicht so. Die Vereinten Nationen haben das Pogrom in Huwara verurteilt. Auch die US-Regierung stand unter Druck – insbesondere von dort lebenden Jüdinnen und Juden. In Deutschland und seitens des Zentralrats, der immerhin unsere Interessen repräsentieren soll, kann man solchen Mut nicht erwarten. Hier lädt man zum Pessachfest ein und postet Bilder blumiger Events auf Instagram. Jüdinnen und Juden in Deutschland, erklären sie, sollten sich nicht die ganze Zeit nur mit Israel beschäftigen müssen. Aber wenn es zu palästinensischen Fahnen kommt, zur Verwendung des Wortes Nakba oder zu Auftritten bestimmter Akademiker:innen oder Künstler:innen, die Israel kritisieren, dann ist der Zentralrat schnell zur Stelle.

Sich nur aus machtpolitischen Gründen mit etwas zu beschäftigen, nicht, weil es der moralische Standard gebietet, ist Feigheit. Es ist Zeit, dass Deutschland und die Jüdinnen und Juden in Deutschland Mut zeigen: Mut gegen rechts und radikalen Nationalismus. Egal von wem er ausgeht.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Gastbeitrag, der keineswegs die Meinung der Redaktion spiegeln muss.