Walter Jens: Das Gewissen im Ohr

Heute, am 8. März 2013, wird Walter Jens neunzig Jahre alt. Der emeritierte Professor für Klassische Philologie, Inhaber des einzigen Lehrstuhls für Allgemeine Rhetorik, Schriftsteller und Übersetzer war von 1989 bis 1997 Präsident der Berliner Akademie der Künste. Unter seiner Präsidentschaft gelang die schwierige Vereinigung der beiden Akademien in Berlin Ost und West. Würdigungen seiner Lebensleistung kann der an Demenz erkrankte Gelehrte selbst nicht mehr wahrnehmen. Einer seiner einstigen Schüler ist der Theologe und Literaturwissenschaftler Karl-Josef Kuschel, dessen Walter-Jens-Biografie in diesen Tagen neu erscheint.

Herr Professor Kuschel, vor zehn Jahren hielten Sie zu Walter Jens’ Achtzigstem eine Ehren-Vorlesung im Tübinger Audimax. Im Hörsaal folgte Ihnen damals, hellwach und stolz, der Jubilar. Was bewegt Sie angesichts der inzwischen so veränderten menschlichen Umstände?

Ich empfinde ein Gefühl tiefer Betroffenheit. Wenn man Walter Jens so gut gekannt hat wie ich, ihn erlebt hat in seinen glänzendsten Zeiten, und ihn jetzt so im Verfall sieht, dann geht einem das sehr nahe. Wie er selber sich fühlt, kann niemand sagen. Er ist nach wie vor ein lebendiger Mensch, der atmet, isst, trinkt; der Gefühle hat, zuweilen Gefühlsausbrüche; der manchmal noch ganze Sätze hervorstoßen kann, flehentliche Sätze. Er ist noch unter uns, aber anders, als wir ihn gekannt haben.
Sein Schicksal ist für mich ein Stück Einübung in Demut, auch in Akzeptanz von Vergänglichkeit. Er selbst hat ja einmal – in einem großen Essay über Psalm 90 – sogar ein Lob der Vergänglichkeit ausgesprochen. Sie halte uns dazu an, jeden Moment unseres befristeten Lebens bewusst und mit Freude zu leben. Dass Walter Jens in seinem hohen Alter dieses Auskosten des Augenblicks nicht mehr erlebt, ist eine Tragödie und erweckt in mir unendliches Mitleid mit ihm. Aber er ist gleichzeitig auch die lebendige Verkörperung, dass die sichtbar gewordene Verfallenheit weder seine Würde noch die Bedeutung seines Werks einschränkt.

Was verdanken Sie persönlich Ihrem einstigen Doktorvater?

Ich kam 1969 als Student im vierten Semester nach Tübingen, und einer der Gründe dafür war Walter Jens. Er hatte die geniale Fähigkeit, viele Dimensionen zu verknüpfen, geistreich und überraschend Bezüge herzustellen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
In den Siebzigern entschloss ich mich, eine Dissertation über die Jesusfigur in der deutschen Nachkriegsliteratur zu schreiben. Da war es für mich eine wunderbare Fügung, dass Hans Küng, mein theologischer Doktorvater, enge Beziehungen zu Walter Jens geknüpft hatte, schon als dessen Wohnnachbar, aber auch aus gemeinsamen geistigen Interessen: Denn Jens hatte sich damals gewandelt. Der Altphilologe hatte in den bewegten Sechzigerjahren eine Kehre vollzogen von einem alexandrinisch-griechischen Bildungsideal hin zu einer starken politischen christlichen Grundhaltung. Er überraschte 1970 mit einer Übersetzung des Matthäus-Evangeliums. 1974 folgte sein großer Roman „Der Fall Judas“.

Ich erinnere mich genau an die erste Unterredung mit ihm in seinem Haus in der Tübinger Sonnenstraße. Ich hatte mir erhofft, er würde ein Füllhorn von Texten über mich ausgießen, mir mühselige Recherchen vielleicht ein wenig erleichtern. Aber er dachte nicht daran! Er gab mir nur zwei literarische Beispiele mit auf den Weg: Hemingways Skizze „Heute ist Freitag“ – das ist ein Dialog von zwei Soldaten, die gerade die Kreuzigung Jesu hinter sich gebracht haben. Und Peter Huchels Gedicht „Dezember 1942“, in dem Stalingrad und Bethlehem ineinander projiziert sind. „Meditieren Sie das“, sagte Jens, „und Sie werden erfahren, wie Schriftsteller mit der Jesusfigur umzugehen vermögen.“

Über beide Texte habe ich gründlich gearbeitet, und dabei erst ging mir auf, welche literarischen Kostbarkeiten das waren. Jens brachte mir damit eine Grundeinsicht bei: Weg vom „Inhaltismus“! Nicht: die Texte nur absuchen nach Inhalten. Sondern: die Entscheidungen der Dichter über Sprache, Form, Rhythmus ernst nehmen. Ihr Handwerk studieren. Das habe ich mir damals hinter die Ohren geschrieben.

Das Œuvre des Polyhistors Walter Jens erscheint in seinen Formen und Funktionen mannigfaltig, heterogen, inkommensurabel... Worin sehen Sie die Eigenart dieses Vermächtnisses?

Walter Jens hat einmal selbstironisch gesagt, er sei nicht ein Meister im Einzelkampf, sondern im Zehnkampf. Er hat sich in einer Einzeldisziplin nie gut genug gefühlt. Aber er hielt sich zugute, die verschiedensten Metiers zu beherrschen. Das Phänomen Walter Jens ist diese Mischung, die ihm niemand nachgemacht hat: Er verkörpert auf ganz eigene Weise ein Zugleich von literaturhistorischer Gelehrsamkeit, philologischer Kompetenz, literarischer Imagination und rhetorischer Kraft. Er konnte die Klassiker übersetzen, und er konnte Fernsehspiele schreiben. Er konnte Vorlesungen halten und Predigten. Ich glaube, das ist das Geheimnis: diese Gleichzeitigkeit des Heterogenen. Er konnte über einen Lessing so sprechen, als sei es eine Figur von heute, oder einen Heine so präsentieren, als hätte er unsere Fragen behandelt.

Wie sehen Sie sein öffentliches politisches Wirken in der deutschen Nachkriegsdemokratie?

Er war ein „public intellectual“. Ein Gelehrter, der seine Reputation ganz aus der Wissenschaft heraus gewonnen hat, sich aber auch auf den Marktplatz wagt. Walter Jens konnte vor dem Deutschen Fußballbund genauso glaubwürdig sprechen wie auf einem SPD-Parteitag oder vor der Akademie der Künste... Er war einer, der den Leuten aufs Maul schaut, ohne ihnen nach dem Munde zu reden. Und einer, der sich nicht scheut, mit seinem politischen Eingreifen auch anstößig zu werden. Sein Engagement für die Sozialdemokraten, seine Aktionen gegen die Aufrüstung mit Atomraketen – all das hat ihn vielen unsympathisch, ja verdächtig gemacht: „Ein deutscher Professor geht nicht Demonstrieren!“. Walter Jens hat diese Grenzen aber immer wieder überschritten. Da ist er für mich vorbildlich, modellhaft. Ich sehe heute niemanden, der in derselben Weise wirken könnte.

Soeben erscheint Ihre Walter-Jens-Biografie neu. Der Katholik Kuschel erweist darin dem „Literaten und Protestanten“ Jens seine Reverenz. Ein ökumenisches Buch?

In der Tat. Walter Jens hat Protestantismus ja nie als innerkirchlichen Konfessionalismus verstanden. Es geht bei ihm darum, in einem umfassenden gesellschaftskritischen Sinne wieder neu das Protestieren zu lernen, für die Humanität des Menschen zu streiten, sich einzumischen in die großen Fragen der Machtpolitik. Jens sieht sich dabei verwurzelt in der Tradition des widerständigen deutschen Protestantismus – mit drei markanten Bezugsgrößen: Von Luther überkommt ihn die Sprachkraft und Sprachmacht der Reformation. Bei Lessing fesselt ihn die scharfe historische Kritik, die an den biblischen Texten geäußert werden muss. Der „protestierende Protestant“ Heine steht dafür, dass religiöses und politisches Engagement zusammengehören. Eine Haltung, die Jens in geistiger Zwiesprache mit Karl Barth, Helmut Gollwitzer und Ernst Bloch immer tiefer in sich ausprägt: Christ-Sein und Politisch-Werden, „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ gehören zusammen.

Sollten in unserem politischen und kirchlichen Alltag Arbeiten von Walter Jens nicht wieder mehr zu Wort kommen?

In den letzten Jahren ist in der Wahrnehmung von Walter Jens zweierlei in den Vordergrund getreten, was seinem in vierzig, fünfzig Jahren gewachsenen Werk nicht gut getan hat. Einerseits war das der Vorwurf, dass er als Student tiefer als zugegeben in den Nazistaat verstrickt gewesen sei – was nicht nachweisbar war. Das andere ist die Überlagerung durch die Demenzkrankheit, die ja auch publizistisch Wirkungen erzielte.
Meine Aufgabe wird es sein, mit dafür zu sorgen, dass das, was Walter Jens uns geistig geboten hat, in lebendiger Erinnerung bleibt. Ich habe vor diesem Gespräch sein 1992 geschriebenes Vermächtnis-Stück „Ein Jud aus Hechingen“ wieder zur Hand genommen. Was in diesem Requiem auf den linken Rechtsanwalt Paul Levi ausgesprochen wird, etwa zum Thema Bändigung der wild gewordenen Kapitalmärkte oder auch zum Thema einer Weltregierung, das ist an Aktualität nicht zu überbieten. Ich würde mir ein Theater wünschen, das dieses Stück wieder aufführt.
Im Alltag der Kirchen würde ich vor allem mit den sprachlich grandiosen Bibelübersetzungen von Jens arbeiten. Jens hat uns dafür sensibilisiert, dass Theologen Menschen sein müssten mit „Gewissen im Ohr“. Das meint Verantwortung für Sprache: Ein federnder Satz, eine präzise Metapher, ein funkelnder Dialog – das alles entsteht nicht mal so irgendwie; es kann gemacht werden, und der Rhetor Walter Jens kannte die Regeln dafür. Wie viel wird bei uns an treffender Sprache verschleudert, wie viel Sprachsklerose, wie viel Sprachverfettung haben wir noch – im Politischen wie im Kirchlichen!

In seinen letzten wachen Jahren konnte man Walter Jens auch niedergeschlagen erleben. Quälten ihn Gedanken, mit seinem Wort womöglich nicht genug ausgerichtet zu haben?

Das will ich nicht ausschließen. Aber er machte auf mich eigentlich nie den Eindruck eines Menschen, der resigniert hätte. Sicher: Er hat in den Neunzigerjahren nicht mehr die großen politischen, sondern eher meditative Reden gehalten – über die sieben letzten Worte Jesu am Kreuz oder über Mozarts Requiem. Das sind stille, spirituelle, ergreifende Texte, die aber immer auch politisch waren. Das war für Walter Jens nie ein Gegensatz.
Seine Stimme hat bis zum Schluss gesprochen, zuletzt gemeinsam mit der seiner Frau, Inge Jens. Denken wir nur an die erfolgreichen Bücher zu Thomas Manns Familie. Das war wohl für beide ein besonderes Glück, ihre geistige Arbeitsgemeinschaft, die von Jugend an bestand, auf diese Weise öffentlich zu zeigen.

Das Gespräch führte Volker Müller.