Welches Theater braucht das Volk?
Budapest - Die Kleidung ist das erste Statement noch bevor ein Wort gesagt ist. Attila Vidnyánszky trägt ein weites weißes Hemd mit schwarzer Weste darüber – ungarische Folklore. Vidnyánszky übernahm in dieser Spielzeit das Budapester Nationaltheater als Intendant. Er war der Wunschkandidat des rechtskonservativen Regierungschefs Viktor Orbán. Seiner Weste entledigt er sich sofort, denn es ist unerträglich warm in dem am Sonntag gut gefüllten Saal, den die Heinrich-Böll-Stiftung in Kreuzberg angemietet hat.
Vidnyánszky ist eingeladen, um die Frage zu klären: Welches Theater braucht das Volk? Für die liberale Gegenposition treten an: György Szabo, der Manager des „Trafó“, eines bemerkenswerten Zentrums für zeitgenössische Kunst, und Árpád Schilling, Regisseur und Gründer der freien Theatergruppe „Krétakör“ (Kreidekreis).
Dass Vidnyánszky und Schilling gemeinsam auf einem Podium sitzen, ist allerhand – und in Budapest unvorstellbar, wie sie beide einräumen. Dort hat es der mächtige Intendant von Orbáns Gnaden gar nicht nötig, sich mit unbotmäßigen Kritikern auseinanderzusetzen. Und der unabhängige Regisseur würde alles vermeiden, was ihn auch nur in den Verdacht des Fraternisierens mit den mächtigen Rechten bringt. Die Diskussion in Berlin aber ist weitgehend frei von Provokationen und kulturpolitischen Aggressionen.
Sehnsucht nach Heimat und Geschichte
Vidnyánszkys Worte passen zu seiner Kleidung. Er hat gerade „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ inszeniert, Arthur Honeggers dramatisches Oratorium nach einem Libretto von Paul Claudel. Es muss so eine Art Gottesdienst geworden sein, monumental, pathetisch, rituell. Verhandelt werde die wichtige Frage des Glaubensverlustes in unserer Zeit, sagt Vidnyánszky. Jahrzehntelang hätten linksliberale Intellektuelle das kulturelle Leben in Ungarn beherrscht und über Patriotismus, Vaterlandsliebe und Selbstaufopferung nur mit Verachtung und Häme gesprochen. Das sei nun vorbei, fügt der Intendant hinzu, und er sei froh darüber. Denn das Volk habe eine große Sehnsucht nach Heimat und Geschichte.
Er könne eine solche künstlerische Sicht akzeptieren, behauptet Schilling. Das Problem der Orbánschen Kulturpolitik sei ein ganz anderes. „Direkte Verbote gibt es nicht“, räumt er ein. Aber die Subventionspolitik sei ein effektives Instrument der Steuerung. So seien seiner Truppe die Zuwendungen staatlicher Förderung auf ein Zehntel zusammengestrichen worden. Nicht aus künstlerischen, sondern klar aus politischen Gründen. Es gehe Schilling aber gar nicht um die konkrete Ausstattung seiner Truppe, sondern ums Prinzip. Vidnyánszky, der über die Geldverteilung in führender Position mitbestimmt, widerspricht natürlich vehement.
Und eine Weile geht es hin und her, doch über Spiegelfechtereien geht der Streit nicht hinaus. Nur für einen Moment bekommt man den Eindruck von der tatsächlichen Tonlage in Ungarns Kulturkampf. Schilling beklagt sich zum wiederholten Male über die fehlenden Subventionen. Jetzt fügt er hinzu: Ausländische Stiftungen seien längst für den fehlenden Betrag eingesprungen. Dort schätze man eben die Qualität seiner Produktionen.
Da verliert Vidnyánszky seine bis dahin gewahrte Beherrschung. Endlich falle die Maske und man sei bei der Wahrheit, fährt es aus ihm heraus. Dass Schilling Geld aus dem Ausland erhalte, sage doch nichts über künstlerische Qualität. Das zeige lediglich, dass er dort erzähle, was man über die angeblich üblen, kulturfeindlichen Zustände im heutigen Ungarn hören wolle. In Budapest wäre Schilling damit endgültig abgefertigt. In Berlin läuft die Diskussion weiter, als hätte Vidnyánszky nichts gesagt.
So beschleicht einen doch ein wenig der Eindruck, dies sei kein authentischer Einblick in den Budapester Kulturkampf, sondern lediglich eine für das Ausland domestizierte Inszenierung desselben. Aber auch die ist aufschlussreich.