„Wenn Bach, Mozart und Chopin heute lebten, würden wir zusammen einen rauchen“
Wunderkind, Enfant terrible, Marketinggenie: Sofiane Pamart gilt als der junge Wilde des Klassikbetriebs. Hier erklärt er, warum Letzterer ihm zu elitär ist.

Eine lichtdurchflutete Mansardenwohnung an den Champs-Élysées, Sofiane Pamart schaut in die Kamera, setzt diese Brille auf, die sein Markenzeichen ist, setzt sie dann aber schnell wieder ab. Den ganzen Tag hat er Interviews gegeben, Promotion für sein neues Album „Letter“ – 18 filigrane Klavierstücke zwischen Neoklassik und Jazz. Pamart spricht hastig, seine Finger sind ständig in Bewegung, über den Bildschirm überträgt sich seine überbordende Energie.
Herr Pamart, auf Spotify kommen Sie auf über 100 Millionen Streams, Sie gelten mit 32 Jahren als einer der wichtigsten Klassik-Newcomer. Wann haben Sie eigentlich mit dem Klavierspielen begonnen?
Es fing an, als ich vier war. Ich hatte dieses Spielzeugklavier mit zwölf Tasten. Irgendwann merkte meine Mutter, dass ich damit die Melodien aus dem Fernsehen nachspielte. Also schickte sie mich auf die Musikschule. Zwei Jahre später bekam ich ein Stipendium für das Konservatorium in Lille.
Sie sind Nachfahre marokkanischer Einwanderer. In Ihrem Jahrgang waren Sie das einzige Kind, das nicht aus einem Musikerhaushalt stammte. Wie schwer war es, in dieser Welt Fuß zu fassen?
Einerseits war ich froh, von sehr guten Meistern unterrichtet worden zu sein. Andererseits waren die Leute am Konservatorium unheimlich konservativ: streng, organisiert, dieses Schablonen-Denken. Ich wollte nicht so sein wie sie – ich wollte mich frei ausdrücken! Manchmal war es so langweilig, dass ich verrückte Sachen machte, um das Ganze aufzulockern. Dann musste mich meine Mutter abholen. Sie hat mich mehr als einmal davor bewahrt, vom Konservatorium zu fliegen. Zu Hause gab es dann natürlich Ärger. Ehrlich gesagt: Ich habe bis heute Angst vor ihr (lacht).
Mit 17 Jahren gewannen Sie die Goldmedaille des Konservatoriums von Lille. Konnten Sie sich als Teenager eigentlich für die Musik begeistern, die Sie da spielten?
Am Anfang gefiel mir klassische Musik überhaupt nicht. Ich stand mehr auf moderne Sachen, vor allem Rap. Mit der Zeit lernte ich auch die klassischen Komponisten lieben. Als ich anfing, ihre Stücke zu spielen, war es, als könnte ich mich in ihren Kopf teleportieren. Plötzlich fühlt man sie. Chopin zum Beispiel: Einfach wow! Seine Musik fühlt sich so natürlich an, hat diesen Flow.
Normalerweise folgt auf das Konservatorium eine Anstellung in einem Orchester. Sie absolvierten erst mal ein Businessstudium.
Ja, denn ich wollte unbedingt meine eigenen Stücke spielen. Ich sah die Stars im Fernsehen und dachte: Ich will unbedingt dieses Leben haben! Auf dem Konservatorium bereiten sie einen nicht darauf vor, berühmt zu werden. Man lernt dort nichts über die Musikindustrie. Also habe ich einen MBA gemacht. Ich wollte die Businesswelt verstehen und ich wollte die zukünftigen Manager und Verleger treffen – Leute, die mir helfen würden, meinen Traum zu erreichen.
Zunächst machten Sie sich einen Namen als Pianist der französischen Rap-Szene. Mit dem belgischen Rapper Skylla spielten sie ein ganzes Album mit Rap und Klavierbegleitung ein. Wie komponiert man für Sprechgesang?
Indem man versucht, die perfekte Emotion des Moments einzufangen. Dann kommt die Melodie wie von selbst. Ich gehe völlig unvorbereitet ins Studio und weiß nie, was mich dort für eine Atmosphäre erwartet. Vielleicht ist der Künstler wütend, vielleicht frisch verliebt, vielleicht macht er gerade eine schwierige Phase durch. Ich spüre die Atmosphäre und – boom – fange an zu spielen.
Sie nennen sich „Piano King“. Von Ihnen ist auch der Satz überliefert, Sie wollten der beste Pianist der Welt werden. Ganz schön selbstbewusst.

Nicht der Beste. Ich will die Nummer eins sein. Großer Unterschied! Der Elitismus ist mir egal. Ich arbeite hart an meiner Musik, aber am Ende geht es darum, dass sie die Menschen berührt. Der „Piano King“ ist nicht der technisch versierteste Spieler. Es ist der Liebling des Publikums. Der will ich sein.
Mangelnden Ehrgeiz kann man Ihnen jedenfalls nicht vorwerfen.
Stimmt. Das Konkurrenzprinzip habe ich aus dem Rap übernommen. Egal ob es um Streams geht, um Bühnenperformance oder um technische Fähigkeiten – ich messe mich immer mit den Besten. Das treibt mich an, das Maximum aus mir herauszuholen. Bei Konkurrenz geht es ja letztlich immer um einen selbst: Man sucht jemanden, der so gut ist, dass er einen auf ein höheres Level hebt.
Welche Musik hören Sie eigentlich privat?
Pamart fummelt an einem Lautsprecher, es erklingt röhrender Flamenco-Gesang.
Das ist Camerón de la Isla. Ich glaube, ich höre das, weil das Wetter gerade so mies ist in Paris. Also mache ich Musik an, die ein bisschen Sonne reinbringt.
Pamart führt mit dem Handy durch seine Dachgeschosswohnung: Viel Weiß, schräge Wände, große Fenster. „Mir gefällt, dass es hier immer hell ist“, sagt er, dann zeigt er aus einem Fenster: „Kannst du das dort sehen? Fuck, das Wetter ist nicht gut, aber dort hinten ist der Eiffelturm.“ Im Wohnzimmer steht ein schwarzer Flügel, darauf liegt eine Goldene Schallplatte.
2019 erschien Ihr erstes Soloalbum „Planet“, eine musikalische Weltreise zwischen Klassik und Jazz. Gerade haben Sie Ihr zweites Album veröffentlicht, „Letter“. Wodurch unterscheiden sich die beiden Alben?
Auf „Planet“ habe ich meinen eigenen Stil gefunden und Erfahrungen von Reisen um die Welt verarbeitet. „Letter“ ist ein Brief an mein Publikum. Jedes Wort ist ein Track. Es beginnt mit „Dear“, ein sanftes, atmosphärisches Stück. Ich denke dabei an jemanden, der an einem Tisch sitzt, die Feder in die Tinte taucht und zu schreiben beginnt. In „Love“ habe ich den Moment eingefangen, in dem man sich verliebt. Die Person ist perfekt, alles ist Magie. Der Anfang einer Liebe ist immer ihr schönster Teil.
An Ihren Solostücken tüfteln Sie bestimmt länger als an den Rap-Songs.
Klar, da ist es komplett anders: Oft kommen mir Ideen, wenn ich reise, da habe ich viel Zeit. Ich liebe es, nachts zu komponieren. Ich fange an, wenn die Sonne untergeht und höre erst bei Sonnenaufgang wieder auf. Die magische Stunde, eine ganz spezielle Atmosphäre. Die Vibes des Anfangs und des Endes, des Öffnens und des Schließens.
Sie tragen gern extravagante Outfits und goldenen Zahnschmuck, 2018 waren Sie das Gesicht der Pariser Luxusmesse „Salon du Luxe“. Steht hinter Ihrem Style eine Botschaft?
Mein Stil soll Freiheit ausdrücken, Modernität. Ich liebe diesen Mix: ein altehrwürdiges Piano und etwas total Futuristisches. Damit will ich frischen Wind in eine sehr traditionelle Kunstform bringen.
US-Rapper Kendrick Lamar wurde 2018 der renommierte Pulitzerpreis verliehen. Sie mixen HipHop mit klassischer Musik. Wird Rap jetzt intellektuell?
Es ist toll, dass Rap auch Zuspruch außerhalb der Rap-Szene erhält. Aber wenn der Rap die Straße verlässt, ist er kein Rap mehr. Es wäre dann ein komplett anderes Genre. Bei dieser Musik geht es ja um eine Einstellung: Du hast nicht auf mich gewartet, du magst mich nicht, aber ich werde dich lehren, mich zu respektieren. Wird man von der Gesellschaft akzeptiert, geht dieser rebellische Geist verloren. Im Jazz ist genau das passiert: Aus einer rebellischen Musik wurde ein intellektuelles Genre. Am Anfang ging es um Alkohol und Huren. Irgendwann wurde er so kopflastig, dass ihn keiner mehr verstand. Wenn man zu viel Theorie in ein Genre steckt, macht man es kaputt.
Sie pflegen das Image des Enfant terrible der klassischen Musik. Dabei führen Sie ein sehr zielstrebiges, produktives Leben. Gerade sprachen Sie von den Huren und Drogen. Wo ist die dunkle Seite von Sofiane Pamart?
(Lacht) Das ist so eine typisch deutsche Frage. In Deutschland wird die dunkle Seite mehr akzeptiert als irgendwo sonst, gerade in Berlin zelebriert man sie regelrecht. Ich mag das, es macht die Leute freier, man kann sich mehr öffnen. Aber schauen Sie: Die Welt der klassischen Musik ist unheimlich konservativ. Man gilt dort bereits als Außenseiter, wenn man sich nur ein bisschen außerhalb der Norm bewegt. Ich erlaube mir ein anderes Leben als andere klassische Pianisten: viele Partys, verrückte Reisen, spät ins Bett. Außerdem, Bach, Mozart, Chopin: Das sind Götter, unerreichbar, man darf sich nicht mit ihnen vergleichen. Ich habe das aber getan. Ich denke, wenn sie heute leben würden, wären sie meine Freunde. Dann würden wir zusammen einen rauchen und einfach nur Spaß haben.
Dienstag Abend, den 10. Mai ist Sofiane Pamart live im Silent Green Kulturquartier zu sehen: Silent Green, Gerichtstraße 35, 13347 Berlin-Wedding. Tickets unter:
www.silent-green.net