Leben & Sterben : Wenn die Schwester ihren kleinen Bruder stillt
Im Südsudan, wo unsere Hebammen-Kolumnistin Sabine Kroh gerade arbeitet, ist Stillen eine Frage des Überlebens.

Gerade ist die Weltstillwoche zu Ende gegangen. „Breastfeeding“, heißt es auf Englisch, auf Spanisch „amamantar“, auf Niederländisch „borstvoeding geven“, „allattamento“ auf Italienisch, „allaiter“ auf Französisch, und auf Swahilii heißt stillen „kunyonyesha“.
Die Vorteile, die das Stillen hat, werden in dieser Woche mantraartig wiederholt. Die Nachteile, die es eindeutig nur für die Mutter gibt, sind es ja meist noch nicht einmal wert, aufgezählt zu werden.
Die Vorteile hingegen werden samt der wissenschaftlichen Belege dazu in bunten Posts auf Social Media gepriesen. Sie kommen aus dem wohlhabenden Teil der Welt, wo in den Supermärkten die Regale vollstehen mit den unterschiedlichsten Ersatzprodukten für Muttermilch. Selbst die Hersteller werden nicht müde, auf den Verpackungen das Stillen anzupreisen – sie sind gesetzlich dazu verpflichtet.
Politikerinnen stillen im Parlament. Das Model Mara Martin trug ihr Baby in einer Show von Sports Illustrated an der Brust über den Laufsteg. Und auf dem Cover von Hochglanzmagazinen ist die stillende Schönheit mittlerweile ein eigenes Genre.
Entscheidet sich eine Frau gegen das Stillen, gleicht die Ausgrenzung und Verachtung, der sie dann ausgesetzt ist, einem Spießrutenlauf durch ein Dorf im 19. Jahrhundert.
Die Frauen hier im Südsudan wissen von all dem nichts. Sie stillen. Einfach so. Abgemagert, nur Haut und Knochen und erschöpft vom Kampf um das Leben, legen sie ihr Baby an die Brust. Fragen haben sie keine. Trinkt das Baby nicht gut, wird mit geübten Händen der Bettnachbarin die Milch aus der Brust ausgestrichen. Das Baby trinkt die Milch dann aus einem Plastikbecher, den die Frauen aus einer zerschnittenen Wasserflasche gebastelt haben. Pumpen gibt es nicht, nicht einmal im Krankenhaus am anderen Ende der Welt.
Stillen in der Öffentlichkeit ist hier keine Frage von Intimität oder Moral, auch wenn der Frauenkörper stets bedeckt gehalten wird, selbst bei Temperaturen um die 40 Grad. Niemand nimmt Anstoß an heraushängenden Brüsten. Stillen ist Leben. Stillen ist Überleben. Stillen ist Schutz und Verhütung, denn solange gestillt wird, gilt Sex als nicht angemessen.
Gestillt wird hier bis zu zwei Jahren. Dann kommt die nächste Schwangerschaft. Stillen ersetzt Nahrung und sauberes Wasser. Milchpulver wird wie Goldstaub gehandelt und erzielt schwindelerregende Preise auf dem Markt im Flüchtlingscamp.
Eine Mutter, die nach der Geburt ihres Babys zu uns kommt, ist zu schwach, um ihren kleinen Sohn zu stillen. Sie hat bei der Geburt viel Blut verloren. Unsere Sorge gilt also auch ihrem drei Tage alten Sohn. Begleitet wird sie von ihrer fast erwachsenen Tochter, die erst vor drei Wochen selbst einen Sohn geboren hat. Ein prächtiges und kräftiges Kerlchen.
Meine Sorge um das Neugeborene ist unbegründet. Es wird einfach von der Tochter der Mutter mitgestillt. Die große Schwester stillt ihren gerade geborenen Bruder. Eine lebensrettende Maßnahme. Meine kurze Verwunderung bringt mir ein schallendes Lachen der Damen ein, in das ich gern einstimme.
Meine Kollegin erklärt mir, dass das Mitstillen eines Babys in der Familie oder unter Freunden das Normalste der Welt sei. Ich musste an den Aufschrei in einem Krankenhaus in Berlin denken, als die Wochenbettschwester einer jungen Mutter versehentlich das „falsche“ Baby an die Brust legte.
Ich fand das nicht so schlimm, obwohl so was natürlich nicht passieren sollte. Hier im Südsudan, wo HIV und Hepatitis eine viel größere Gefahr für das Baby darstellen als bei uns, kann das Mitstillen lebensrettend sein.
Nach zwei Wochen darf unsere kleine Familie wieder nach Hause. Sie sitzen im Bett und lachen, jeder stillt sein eigenes Baby. Mutter und Tochter, Bruder und Enkel, in der Weltstillwoche.