Wildes deutsches Kino im Wohnzimmer
Ein winziges Programmkino in Hannover macht zurzeit das aufregendste Corona-Programm. Im virtuellen „Lodderbast“ werden nicht nur täglich Filme gezeigt, es gibt auch Diskussionen mit Regisseuren, Schauspielern und Kritikern.
Berlin-Als „Lodderbast“ wird in der Hannoveraner Mundart ein etwas windiger, nicht ganz seriöser Zeitgenosse beschrieben. Als Wiebke und Johannes Thomson vor knapp zwei Jahren ihr winziges Kino in der niedersächsischen Landeshauptstadt so nannten, spielten sie damit selbstironisch auf ihren Status als Newcomer an.

Ins „Lodderbast“ passen nur zwanzig Gäste. Sitzreihen, Vorhang und Projektionsraum gibt es nicht. Der Videoprojektor hängt an der Decke, die Gäste machen es sich mit ihren Drinks in Sesseln bequem. Es herrscht Wohnzimmeratmosphäre. Gerade aus diesem nachbarschaftlichen Charme zieht das Projekt seinen Reiz. Gezeigt wird laut Selbstaussage am liebsten „wildes deutsches Kino“: also kompromisslose Filme mit geringen Budgets, die sonst kaum wahrgenommen werden. Bis zur coronabedingten Schließung aller Kinos war das Haus deshalb auch nur einer kleinen, wenn auch eingeschworenen Fangemeinde bekannt.
Das ändert sich gerade. Denn die Thomsons bieten das derzeit originellste Online-Kinoprogramm Deutschlands. Wenige Tage nach dem Veranstaltungstopp Mitte März begannen sie mit Screenings, die inzwischen von mehr als 25.000 Zuschauern verfolgt wurden – das sind weit mehr Gäste als bislang physisch den Weg zum „Lodderbast“ gefunden haben. Anders als bei anderen Internet-Plattformen wird viel Wert auf kollektive Filmerlebnisse gelegt. Nach einer kurzen Begrüßung beginnt die gemeinsame Sichtung in Echtzeit, danach folgen jeweils circa einstündige, stets pointiert moderierte Publikumsgespräche mit Filmemachern, Schauspielern oder Kritikern. Das Ganze ist kostenlos, wobei Spenden willkommen sind.
In den vergangenen acht Wochen standen unter anderem Rosa von Praunheim, Jules Herrmann, Andreas Dresen oder RP Kahl Rede und Antwort, es liefen aber auch Werke von den Altmeistern Alfred Hitchcook, David Cronenberg oder Gaspar Noé. Die Filme werden entweder von den Regisseuren selbst, aber auch von gewerblichen Verleihern und Plattformen wie Netflix zur Verfügung gestellt. Solange die Kinos geschlossen bleiben, läuft dieses digitale Angebot weiter. So werden demnächst Till Kleinert seinen Provinz-Albtraum „Der Samurai“ und Sandra Wollner ihre auf Super-8 gedrehte österreichische Familienaufstellung „Das unmögliche Bild“ vorstellen.
Mit der Zeit weitet sich der Blick vom deutschsprachigen Kino immer mehr nach Europa und darüber hinaus. Nach Dagur Kári aus Island („Virgin Mountain“) wird demnächst der südafrikanische Regisseur Richard Stanley per Skype zu Gast sein. Seine Lovecraft-Verfilmung „Color Out of Space“ mit Nicholas Cage visualisiert die Machtübernahme durch Außerirdische. Auch das passt gerade ziemlich gut.