Wir Schwule sind euch egal: Berlin versagt im Umgang mit den Affenpocken

Unser Autor lebt schwul und promiskuitiv. Der Umgang der Berliner Regierung mit der Affenpocken-Krise beschwört bei ihm vergangene Traumata wieder herauf.

Noam Brusilovsky: „Ich möchte dabei nicht nur das nachholen, was mir persönlich verboten wurde, sondern auch das, was meinen queeren Vorfahren über Generationen untersagt wurde.“
Noam Brusilovsky: „Ich möchte dabei nicht nur das nachholen, was mir persönlich verboten wurde, sondern auch das, was meinen queeren Vorfahren über Generationen untersagt wurde.“@studiohosego

„Männer, die Sex mit anderen Männern haben, sterben an Aids.“ Das sagt mir meine Mutter, kurz bevor ich den großen Blutfleck vor unserer Haustür anfasse. Schnell hält sie mich mit ihrer Hand davon ab. Es ist 1997 und ich bin acht Jahre alt. Viele haben noch große Angst vor dem unheilbaren Virus. Deshalb klärt meine Mutter mich auf. Ab diesem Moment kann ich nicht mehr schlafen, weil ich mich vor dem HI-Virus so fürchte.

Ich weigere mich, mit Kindern, die offene Wunden haben, zu spielen oder die Tasten im Fahrstuhl zu drücken, weil irgendein Aids-Kranker sie vorher angefasst haben könnte. Immer wieder flehe ich meine Mutter an, mit mir zur Kinderärztin zu gehen, damit sie mir Blut abnimmt. Selbst als die Kinderärztin in ihrer Praxis mir erklärt, dass es keine Chance auf der Welt gibt, dass ich mich mit Aids angesteckt habe, weil der Virus sich nicht über die Tasten im Fahrstuhl verbreitet – ich glaube es ihr nicht.

Hätte mich meine Mutter mit ihrer Hand auch davon abhalten können, schwul zu werden, wie sie mich davon abhielt, den Blutfleck anzufassen, hätte sie es wohl getan. Diese Sorge habe ich bereits als Kind verstanden – ohne dass sie ausgesprochen wurde. Meine Angst vor Aids war offensichtlich meine Angst davor, schwul zu werden. Und als ich später ein schwuler Mann wurde und anfing, Sex mit Männern zu haben, ließ auch meine Angst vor HIV/Aids nicht nach.

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Foto: Lea Hoppe
Zur Person
Noam Brusilovsky ist ein deutsch-israelischer Theater- und Hörspiel-Regisseur. In seinem Stück „Woran man einen Juden erkennen kann“ spielt Brusilovsky mit Klischees über Juden. Sein zusammen mit dem Journalisten und Autor Ofer Waldman produziertes Stück „Adolf Eichmann – Ein Hörprozess“ wurde mit dem Hörspielpreis der ARD ausgezeichnet.

Sex mit Kondom: wie ein Kuss mit FFP-2-Maske

Geschlechtsverkehr habe ich jahrelang als große Gefahr empfunden und konnte es kaum genießen. Kondomen habe ich nie wirklich vertraut: sie platzen, rutschen ab, sind hässlich. Sie riechen auch komisch und der Sex mit ihnen fühlt sich an wie ein Kuss mit einer FFP-2-Maske. Kondome sind eine permanente Erinnerung daran, dass man im epidemiologischen Notstand lebt. Und auch wenn sie das Leben vieler Menschen gerettet haben, empfand ich sie stets als massive Beeinträchtigung. Obwohl ich sie ständig verwendet habe, bin ich nach jedem Fick zum Arzt gerannt und habe einen Test machen lassen, nur um sicherzustellen, dass ich mir den verdammten Virus nicht geholt habe.

Mir wurde im frühen Alter beigebracht, schwuler Sex sei obszön. Und dieser Gedanke ließ mich lange nicht mehr los. Jahre später habe ich erfahren, dass dieses Phänomen „internalisierte Homophobie“ heißt – und dass fast all meine schwulen Freunde darunter leiden.

Meine Ängste vor HIV waren längst nicht mehr zeitgemäß. Heutzutage leben meine engsten Freunde mit HIV und eine kleine Pille, die sie täglich nehmen, ermöglicht es ihnen, ein gesundes, langes und uneingeschränktes Leben zu führen. Seit ein paar Jahren gibt es die Erkenntnis, dass Menschen mit HIV, deren Viruslast durch die erfolgreiche Therapie unter der Nachweisgrenze liegt, nicht mehr ansteckend sind.

Unter sich reden schwule Kumpels offen über ihren HIV-Status. Allerdings haben viele von ihnen große Schwierigkeiten, Familienmitgliedern und deren Arbeitskolleg:innen vom Leben mit dem Virus zu erzählen. Die Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft und die Stigmatisierung von Menschen mit HIV führt dazu, dass nur wenige von ihnen sich trauen, sich öffentlich zu outen.

Eine neuartige Therapie half mir, die Angst zu überwinden

Dank einer neuartigen prophylaktischen Therapie habe ich es geschafft, meine Angst vor schwulem Sex endgültig zu besiegen. Die PrEP (HIV-Präexpositionsprophylaxe) wurde 2016 in der EU zugelassen. Es handelt sich um ein Medikament, das Menschen ohne HIV Schutz vor dem Virus sichert. Man nimmt es täglich ein – und auch wenn man kein Kondom verwendet, besteht dann keine Gefahr mehr, sich mit dem Virus zu infizieren. Ich werde meinen ersten Sex ohne Kondom unter PrEP nie vergessen: Es war das erste Mal, dass ich sorglos ficken konnte, ohne an diesen Satz denken zu müssen: „Männer, die Sex mit anderen Männern haben, sterben an Aids.“ Es war das Gefühl grenzenloser Freiheit. Die Befreiung vom Blick einer heteronormativen Gesellschaft, die meine „sodomitische“ Lust über Jahre mit Sünde und Gefahr assoziierte, bis sie von derselben Gesellschaft schlussendlich pathologisiert und kriminalisiert wurde.

Ich möchte dabei nicht nur das nachholen, was mir persönlich verboten wurde, sondern auch das, was meinen queeren Vorfahren über Generationen untersagt wurde. Sorglosen Sex zu haben, sind mein Ausdruck von Freiheit und meine persönliche Rache am heteronormativen Regime.

Mein Arzt, Herr F., würde an dieser Stelle wahrscheinlich die Augenbrauen anheben und leicht mit dem Mund zucken. Wie oft hat er mich schon in den letzten Jahren angerufen, um mir mitzuteilen, dass ich mir im Laufe meines erotischen Aktionismus im Namen der queeren Emanzipation diese oder jene sexuell übertragbare Infektion geholt habe. Und wie oft schon bin ich wie ein Loser in seine Praxis gelaufen, um deshalb mein Rezept abzuholen.

Herr F. ist der beste Arzt der Welt. Von Herrn F. wurde ich in all den Jahren nie verurteilt oder schräg angeguckt. Herr F. betrachtet sexuell übertragbare Infektionen nicht als Manifestation moralischen Fehlverhaltens – sondern schlicht als Bakterien und Viren, die mithilfe entsprechender Medikamente behandelt werden müssen.

Affenpocken: „Eine einzige Katastrophe!“

Als ich Herrn F. Anfang vergangener Woche in seiner Praxis frage, was er von der jetzigen Affenpockenkrise hält, regt er sich auf. „Eine einzige Katastrophe!“, antwortet er. Obwohl der erste Fall der Affenpocken in Berlin erst im Mai festgestellt wurde, wurden schon über 1000 Fälle in der Hotspot-Hauptstadt diagnostiziert. Mittlerweile kenne ich selber fast 20 Personen in Berlin, die sich mit dem Virus infiziert haben – alles schwule Männer.

„Patienten auf PrEP in Ihrem Alter, Herr Brusilovsky, sind die Hauptrisikogruppe“, meint Herr F. ernsthaft zu mir. Er erzählt mir von Patienten, die stationär behandelt werden mussten, weil sie die Schmerzen nicht mehr aushalten konnten; von Pocken in der Leiste, die beinahe die Größe eines Tennisballs erreicht haben. „Wann werden wir endlich geimpft?“, frage ich ihn besorgt. Er hat noch keine Antwort. Während in anderen Bundesländern seit Wochen geimpft wird, lagerte der Impfstoff in der Charité.

Währenddessen verbreitet sich der Virus in Berlin rasant weiter – ohne dass der bereits in Berlin vorhandene Impfstoff schnell dazu eingesetzt würde, diese Steigerung stark einzudämmen. Zudem wurde der Impfstoff unter den Bundesländern aufgeteilt und Senatorin Gote hat dabei offenbar schlecht verhandelt: Obwohl die Mehrheit der Fälle aus Berlin stammt, bekommt Berlin nur 39 Prozent des in Deutschland verfügbaren Impfstoffs. Daher ist es beinahe unmöglich, einen Impftermin zu bekommen. Die festgelegten Impfstellen sind völlig überfordert. Die 8000 Impfdosen, die die grüne Senatorin bisher besorgt hat, sind einfach nicht ausreichend.

Ich höre von Bekannten, die Impftermine in Bayern und in Niedersachsen vereinbaren lassen, weil sie fürchten, die Affenpocken würden sie auch bald selbst erwischen und weil sie nicht davon ausgehen, dass sie den Impfstoff an ihrem Wohnort Berlin schnell bekommen. Andere Freunde melden sich panisch bei mehreren Impfstellen und warten stundenlang verzweifelt in der Leitung. Wir sind unruhig und ungeduldig. Wir wollen immun sein. Die Immunität, die wir uns wünschen, ist allerdings nicht nur gegen die Affenpocken, sondern auch gegen den grundsätzlichen Gedanken, dass Sex zwischen zwei Männern krankhaft sei – eine Idee, die uns viel zu lange vorgehalten wurde und mit der wir in unseren Köpfen immer noch zu kämpfen haben.