„Wir stehen mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte“
Über eine Million Tierarten drohen auszusterben. 50 davon haben Ulrike Sterblich und Heiko Werning in lustigen Geschichten porträtiert. Ein Interview über seltene Tierarten und darüber, wie die Artenvielfalt geschützt werden kann.

Berliner Zeitung: Herr Werning, „Das prekäre Bestiarium“ ist ein Buch voller oft lustiger Geschichten über Tierarten, die auszusterben drohen – ist das nicht paradox?
Wir stehen mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte, vergleichbar mit dem Exitus der Dinosaurier. Der von den UN eingesetzte Weltbiodiversitätsrat rechnet damit, dass in den nächsten Jahrzehnten mehr als eine Million Tier- und Pflanzenarten aussterben. Wir wollten weg von diesen abstrakten Zahlen und zeigen, was dahintersteht: einzigartige, seltsame, liebenswerte Geschöpfe. Und dass der Verlust jeder einzelnen Art unersetzlich ist. Wir wollen, dass man sie so liebgewinnt, wie auch wir sie bei der Recherche liebgewonnen haben.
Sie, die Autoren, sind eine Romanschriftstellerin und ein Lesebühnenautor und Satiriker – wie sind Sie dazu gekommen, ausgerechnet über die Biodiversitätskrise zu schreiben?
Wir engagieren uns beide in der Organisation Citizen Conservation, die Erhaltungszuchtprogramme für bedrohte Arten in Zoos und bei privaten Tierhaltern aufbaut. Wir wollten diese Initiative zum Weltbiodiversitätstag am 22. Mai 2020 in einer großen Aktion in den Zoos der Öffentlichkeit vorstellen. Doch dann kam Corona, und die Zoos waren zu. Da haben wir beschlossen, Tiere, die nur durch Erhaltungszuchten gerettet werden konnten, in unterhaltsamen Geschichten vorzustellen und diese von bekannten Personen einlesen zu lassen. Daraus entstand unser Kreaturen-Podcast, bei dem beispielsweise Reinhard Mey, Marion Brasch, Götz Alsmann, Kathrin Passig und Eckhart von Hirschhausen mitgemacht haben. Die Resonanz war toll, und da war klar, dass wir weitermachen wollten.
Fast 50 Arten bevölkern das prekäre Bestiarium – Ihr persönliches Lieblingstier?
Gute Eltern lieben ja alle ihre Kinder gleichermaßen. Aber einige haben schon wirklich ganz besondere Geschichten und Eigenheiten. Der Europäische Stör etwa, von dem wohl wirklich nur noch ein paar wenige erwachsene Exemplare durch den Atlantik schwimmen, und der so sagenhaft lebensunfähig wirkt, dass man sich wundert, dass er seinen Stör-Angelegenheiten schon seit 200 Millionen Jahren praktisch unverändert nachgeht. Oder der nordamerikanische Schwarzfußiltis, der bereits als ausgestorben galt, bis auf einer einsamen Farm noch ein paar letzte Tiere gefunden und in Zoos wieder herangezüchtet wurden. Und dann wären sie fast noch dem Corona-Virus zum Opfer gefallen ... Letztlich steht hinter jedem dieser Tiere eine ganz eigene Erzählung.
Wie viele Tierarten sind denn schon jetzt vom Aussterben bedroht?
Sehr viele, leider. Allein bei den Amphibien sind es über 40 Prozent, bei den Schildkröten und den Krokodilen um die 50 Prozent, bei den Säugetieren rund ein Viertel. Insgesamt schätzt die Weltnaturschutzunion IUCN die Zahl der derzeit bedrohten Tierarten auf 40.000.
Was muss dagegen getan werden?
Das Wichtigste ist natürlich ein konsequenter Schutz der Lebensräume. Viele Arten werden auch immer noch durch Bejagung gefährdet. Ein entscheidendes Problem für die Zukunft ist der Klimawandel – viele Arten können sich an Klimaänderungen nicht so schnell anpassen und auch nicht ausweichen. Wir beschreiben in unserem Buch die Nimbakröte, die einzige Kröte der Welt, die lebende Jungtiere zur Welt bringt. Sie lebt in Westafrika ganz oben auf einem Bergmassiv. Wenn es wärmer oder trockener wird, kann sie nicht weiter nach oben ausweichen und wird aussterben.
Da hilft die Zucht in Zoos?
Weil von vielen Arten nur noch so wenige Tiere übrig sind, und weil Maßnahmen wie Lebensraumschutz oder Stopp des Klimawandels so schnell gar nicht realisierbar sind, ist es für viele Arten in der Natur bereits zu spät. Die einzige Möglichkeit, sie zu retten, besteht darin, sie in menschlicher Obhut zu züchten.
Und dann leben diese Arten für immer nur noch im Zoo?
Wenn die Lebensräume wiederhergestellt sind und es funktionierende Schutzmaßnahmen gibt, können sie wieder ausgewildert werden. Wir beschreiben in unserem Buch eine ganze Reihe an Arten, bei denen das bereits geklappt hat. In Europa zum Beispiel Wisent, Waldrapp und Bartgeier. Alles Arten, die bei uns bereits ausgerottet waren und bei denen gezüchtete Tiere wiederangesiedelt werden konnten. Mit teils abenteuerlichen Methoden: Nehmen wir den Waldrapp, ein storchenähnlicher Vogel mit Punker-Frisur. Weil er ein Zugvogel ist, die Zugroute aber erst von den Eltern lernen muss, war er verloren, denn es gab keine Vögel mehr, die die Route noch kannten. Deshalb sind Artenschützer den in Zoos gezüchteten jungen Waldrappen mit Ultraleichtfliegern über die Alpen vorausgeflogen, um ihnen den Weg erst mal zu zeigen. Mit Erfolg! Heute gibt es in Deutschland wieder brütende Waldrappe, die im Winter in den Süden ziehen.
Wie will Citizen Conservation dabei helfen?
Die Zahl der Arten, die solche Rettungszuchten brauchen, ist groß und wird immer größer. Zoos haben das Wissen und die technischen Möglichkeiten, Tiere durch Nachzucht zu erhalten. Aber Platz und Geld reichen bei weitem nicht aus angesichts der rasant steigenden Artenzahl. Es gibt aber auch sehr viele engagierte private Tierhalter. Leute, die mit viel Sachverstand und Leidenschaft zu Hause Fische, Frösche, Geckos, Papageien, Salamander und viele andere Arten halten. Citizen Conservation will diese großen zusätzlichen Kapazitäten für den Artenschutz nutzen, indem wir Privathalter in koordinierte Erhaltungszuchtprogramme einbinden. Da wird sozusagen der Aquarianer zur Außenstelle des Zoos. Entscheidend ist, den großen Schatz an privatem Wissen und Engagement für die gemeinsame große Aufgabe zu heben. Solange jeder für sich alleine rummacht, nutzt alles nichts. Um die nötige Koordination kümmert sich Citizen Conservation.
Im Prinzip könnte also jeder mitmachen?
Wenn man sich sachkundig gemacht und ausreichend Erfahrung hat: ja! Warum sollte man zu Hause bloß Goldfische oder Hamster halten, wenn man mit demselben Aufwand auch bedrohte Arten retten kann? Das stiftet Sinn und macht auch noch Spaß!
„Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch - Ein prekäres Bestiarium“, Sachbuch von Ulrike Sterblich und Heiko Werning, Galiani Berlin, 240 Seiten, 22 Euro. ISBN 978-3-86971-255-0
Heiko Werning arbeitet seit 25 Jahren als Fachredakteur für Amphibien und Reptilien, veröffentlicht humoristische Kurzgeschichten und Satiren und liest diese auch bei den Berliner Lesebühnen „Reformbühne Heim & Welt“ und „Brauseboys“ vor. Vor fünf Jahren gründeten er und Björn Encke Citizen Conservation, wofür sie als „Kultur- und Kreativpiloten 2019“ der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der Bundesregierung ausgezeichnet wurden.
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