Wolfgang Kraushaar: Man darf der RAF nicht noch einmal auf den Leim gehen
Der Terror der RAF beschäftigt die Deutschen auch 40 Jahre später wie kaum ein anderes gesellschaftliches Ereignis. Wir sprachen mit dem Historiker Wolfgang Kraushaar, der die Generation, die Gewalt suchte, wie kaum ein zweiter untersucht hat.
Herr Kraushaar, war die RAF nur eine Episode oder hat sie die Bundesrepublik nachhaltig verändert?
Weder das eine noch das andere. Einerseits ist es mehr als nur als eine Episode gewesen – dazu wurde zumindest in den 70er Jahren das ganze politische und soziale Umfeld zu sehr in Mitleidenschaft gezogen. Andererseits wäre es aber auch ein Fehler, die Auswirkungen auf den Staat zu überschätzen. Denn die RAF selbst hatte ja geglaubt, dem Staat den Krieg erklären zu können. Man darf den Parolen der RAF im Nachhinein nicht noch einmal auf den Leim gehen. Denn das ist natürlich kein Krieg, sondern Terrorismus gewesen. Auch mit Schrecken und Opfern verbunden, aber nichts, was sich ernsthaft mit einem Krieg vergleichen ließe. Zudem war die Bedrohung des Staates durch die RAF zwar nicht unmaßgeblich, aber doch gewissermaßen abstrakt.
Inwiefern? Die Repräsentanten des Staates waren bedroht!
Absolut. Man muss nur einmal versuchen, sich vorzustellen, dass es nicht nur Hanns Martin Schleyer als Präsident der Arbeitgeberverbände oder später der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, gewesen sind, die bedroht waren und umgebracht worden sind. Sondern auch Politiker wie Willy Brandt, Franz Josef Strauß, Helmut Schmidt und andere mussten sich unmittelbar bedroht fühlen. Aber es ist keine Bedrohung der Bevölkerung im Ganzen gewesen, wenn man davon absieht, dass die Lufthansa-Maschine Landshut mit Mallorca-Touristen an Bord entführt worden ist. Das war eine Unterstützungsaktion der Palästinenser und für die RAF unüblich. Deren Aktionen richteten sich gegen die Funktionseliten.
Hatte die RAF eine eigene Ideologie oder war sie irgendwann nur noch mit sich selbst beschäftigt?
Sicher spielten bei ihr ideologische Momente wie etwa Antiimperialismus eine Rolle. Das sollte man aber nicht überbewerten. Man spricht ja von der RAF als einer linksterroristischen Organisation und versucht, sie damit politisch zuzuordnen und von anderen terroristischen Gruppierungen abzugrenzen, die ihre Ziele entweder religiös verbrämen oder sie ethno-nationalistisch begründen wie die Al-Fatah oder die PLO. Bei der RAF gab es politische Begründungsmuster, aber ich glaube nicht, dass diese zentral waren. Es hat von Mai 1970 bis Mai 1972 gedauert, bis sie über ihre logistischen Vorbereitungen hinaus gelangt war und Bombenanschläge hat verüben können, die sich wegen des Vietnam-Krieges vor allen Dingen gegen militärische Einrichtungen der USA richteten und zweitens gegen Einrichtungen der Justiz und drittens gegen die Redaktionen des Axel-Springer-Verlags. Als unmittelbar darauf mit Baader, Ensslin, Meins, Raspe und Meinhof die Spitze der RAF verhaftet wurde, hat sich die RAF dann aber nur noch darum gekümmert, ihre Gefangenen freizupressen.
Wie beschreiben Sie die Rolle des Staates in den 70er-Jahren, als er eine Reihe von Grundrechten außer Kraft setzte?
Es hat damals unterschiedliche Möglichkeiten gegeben, auf den RAF-Terrorismus zu reagieren. Den Unterschied kann man am besten an zwei Entführungsfällen deutlich machen. Erstens ist 1975 der Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz von der mit der RAF kooperierenden Bewegung 2. Juni entführt worden. Der Staat hat sich in diesem Fall wirklich erpressen lassen und die Forderungen der Entführer erfüllt, indem man fünf inhaftierte Terroristen freiließ. Im Fall der Entführung von Hanns Martin Schleyer hat Helmut Schmidt dann 1977 ganz anders reagiert. Er hat deutlich gemacht, dass man nicht noch einmal nachgeben dürfe. Und wie die Beteiligten der Krisenstäbe im Nachhinein betont haben, sei von Anfang an keine andere Option im Spiel gewesen als die, nicht nachzugeben, die Entführer von der Polizei ergreifen zu lassen und vor Gericht zu bringen.
Ein bemerkenswerter Unterschied.
Daran kann man erkennen, dass es damals ganz unterschiedliche Möglichkeiten gegeben hat. Das hat man seitens der Bundesregierung unter Schmidt im Fall Schleyer allerdings nicht mehr wahrhaben wollen. Was sie dann am 13. Oktober 1977 in eine prekäre Situation gebracht hat, als nämlich die Landshut-Maschine mit über 80 Touristen und fünf Besatzungsmitgliedern an Bord entführt worden war. Es war natürlich außerordentlich schwierig, darauf eine Antwort zu finden. Ich halte es aber auch im Nachhinein für eine eher zweifelhafte Aktion, dass die GSG 9 es in dieser Situation unternommen hat, die Geiseln zu befreien. Das ist Gott sei Dank gutgegangen, doch es hätte auch sehr schief gehen können. Denn aus einer Maschine, in der sich vier Geiselnehmer befanden, von denen einer bereits den Flugkapitän Jürgen Schumann erschossen hatte, und die mit Sprengstoff und Pistolen bewaffnet waren, eine Befreiungsaktion durchzuführen, war hochriskant. Schmidt soll, wie man später erfahren konnte, für den Fall, dass es dabei zu vielen Verletzten und Todesopfern gekommen wäre, seinen Rücktritt vorbereitet haben.
Wie beurteilen Sie dabei die Verabschiedung der Notstands-Gesetze?
Letztlich war der gesamte Deutsche Herbst durch eine Art formell nicht-erklärten Ausnahmezustandes geprägt. Mit den Notstands-Gesetzen hätte es die Möglichkeit gegeben, den inneren Notstand auszurufen. Das hat man aber nicht getan. Trotzdem wurden Maßnahmen ergriffen, die dem entsprachen, wie die Verhängung der Nachrichtensperre. Einmal mussten sogar alle Exemplare der Zeitung Die Welt an den Kiosken wieder eingesammelt und vernichtet werden, um zu verhindern, dass Informationen über die geplante Befreiungsaktion der GSG 9 an die Geiselnehmer gelangen könnten.
Gab es dagegen keinen Widerstand?
Nein. Presse, Funk und Fernsehen haben durch die Bank gekuscht. Ein anderer problematischer Schritt bestand in der Verabschiedung des Kontaktsperregesetzes. Die RAF-Anwälte sollten mit ihren in den Gefängnissen einsitzenden Mandanten keinen Kontakt haben dürfen. Das ist sehr schnell umgesetzt worden. Und der dritte Problemfall bestand darin, dass mit der Einrichtung des kleinen und großen Krisenstabes die Exekutive fraktionsübergreifend erweitert wurde und es anschließend keine parlamentarische Kontrolle mehr gab. Das heißt, Bundeskanzler Helmut Schmidt konnte nach Abklärung mit seinen Kollegen das Vorgehen mehr oder weniger unkontrolliert bestimmen.
War der Staat existenziell bedroht?
Nein. Eine Gefährdung hätte es nur dann gegeben, wenn man den rechtspopulistischen Stimmen, die es damals ja auch schon gab, nachgegeben hätte, die mit Vehemenz nach einer Lynchjustiz gerufen haben. Solange, bis die Geisel Hanns Martin Schleyer freigelassen worden wäre, lauteten sie, hätte jede Stunde einer der RAF-Terroristen hingerichtet werden sollen. Das war aber kaum mehr als eine Eskalation der Stimmung in dieser aufgeheizten Atmosphäre.
Die RAF nahm ja sogar den französischen Philosophen Jean-Paul Sartre für sich in Anspruch, um auf die Situation der Gefangenen in Stammheim aufmerksam zu machen.
Das ist im Nachhinein ebenfalls kaum noch vorstellbar, dass der wohl berühmteste Philosoph der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 1974 bereit gewesen ist, von Paris aus nach Stuttgart zu fliegen, um Andreas Baader in Stammheim zu besuchen. Klaus Croissant, einer der seinerzeit umstrittensten RAF-Anwälte, hatte das auf Wunsch von Meinhof und Ensslin initiiert und mit Hilfe von Daniel Cohn-Bendit realisiert. Die Tatsache, dass sich Sartre propagandistisch hatte instrumentalisieren lassen, zeigt, dass die RAF damals eine Projektionsfläche für französische Intellektuelle war. Sie hatten offenbar geglaubt, dass in der Bundesrepublik eine Gruppe entstanden sei, die dem im Nationalsozialismus nicht vorhandenen – oder zumindest nicht ausreichenden – Widerstand nun auf einmal nachholen würde. Das war der Trugschluss, dem man im Frankreich dieser Jahre in bestimmten Kreisen aufgesessen war.
Das Gespräch führte Michael Hesse.