Wotans Winterreise: Mehr Einsamkeit geht nicht
Im Apollo-Saal der Staatsoper Unter den Linden begeben sich Michael Volle und Matthias Schulz mit Franz Schubert in die eisigen Abgründe der Seele.

Wagner und Schubert sind Vertreter derselben Epoche. Der eine, Franz Schubert, stand am Anfang, er beendete die Klassik. Seine Musik ist die Avantgarde, die direkt in die Romantik führt. Der andere, Richard Wagner, bringt die Romantik an ihr Ende. Mit der Aufhebung der Tonalität ist Wagner jene Avantgarde, die das 20. Jahrhundert vorwegnimmt – Mahler und Schönberg inklusive.
Dass dieser Gedanke gar nicht abwegig ist, bewiesen Michael Volle und Matthias Schulz am Montagabend im Apollo-Saal der Staatsoper Unter den Linden. In dem Haus, an dem erst vor wenigen Wochen Wagners „Ring“ triumphale Erfolge feierte, wirkte die Aufführung von Schuberts „Winterreise“ jetzt wie der logische Komplementär zu Wagner: Schuberts 24 Lieder sind ein kleiner „Ring“ – schroff, lyrisch, verzweifelt. Es geht darin um den Weltuntergang, wenngleich nicht um den universalen wie bei Wagner, wo am Ende der ganze Kosmos in Flammen aufgeht. Bei Schubert verzehrt sich ein einzelner Mensch, weil seine Liebe unerfüllt bleibt. Hier wird das existenzielle Leitmotiv intoniert – die Grundlage aller romantischen Kunst. Eine Idee, die später bekanntlich von Hollywood übernommen wurde. Dort verflüchtigte sich mit der Zeit die zweite Ebene, nämlich die reflektierende. Meta ist heute nur noch der Titel eines Internet-Konzerns.

Schreckliche heile Welt im Apollo-Saal
Im Apollo-Saal dagegen leuchtet die schreckliche heile Welt: Michael Volle war im „Ring“ Wotan gewesen, also Gott und Wanderer. Bei der „Winterreise“ ist Volle dann Mensch und Wanderer. Dem Bariton war die menschlich-unmittelbare Darstellung im „Ring“ von Regisseur Dmitri Tcherniakov perfekt gelungen. Sein Wotan war ein Gott, der an den Menschen verzweifelt. Sein Schubert-Wanderer ist ein Mensch, der an den Göttern verzweifelt: Mit grimmigem Zorn schreit Volle hinaus, was Schubert mit Sarkasmus vertont: „Lustig in die Welt hinein, gegen Wind und Wetter! Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter!“ Keiner lacht, es wird eisig kalt im Saal. Mehr Einsamkeit geht nicht.
Volle versteht es brillant, die beiden Ebenen Schuberts zu trennen und zugleich miteinander zu verweben: Die scheinbar naive Erzählung schlägt unvermittelt in bittere Anklage um. Volle singt nun extrem nuanciert. Die Worte sind bis ins Detail verständlich. Die lyrischen Teile verführen den Zuhörer, an das Gute zu glauben. Wenn aber nicht einmal der Friedhof als Refugium dienen will und der Sänger-Mensch den Totenacker verflucht, wird der Apollo-Saal zur großen Bühne, das Seelendrama zur öffentlichen Anklage.
Den Zuschauern stockt immer wieder der Atem, sie werden Teil von Wotans Winterreise – auch weil am Flügel Matthias Schulz sitzt, der Intendant des Hauses. Seine Interpretation: Unerbittlich präzise gestaltet er die Miniaturen, klar und mit einer fast aufführungspraktischen Artikulation. Nur ganz sparsam setzt er Effekte ein. An den zentralen Stellen bricht sich dann die Emotion Bahn.
Der Flügel wird zum Orchester, der Intendant zum Illusionisten, mit der allergrößten Perfektion und Wirkung. Schulz hat, wie jeder gute Impresario, auch das Momentum auf seiner Seite: In der Nacht zuvor hatte es in Berlin geschneit. Gefrorene Tränen, die Spur der Tritte im Schnee, Eisblumen, kalte Flocken, starre Finger, nackte Füße auf dem Eise. Nach dem Konzert warnt der Radiosprecher vor stellenweise Glatteis bei klarer Nacht, hochnebelartige Wolken in der Prignitz, tiefste Temperaturen bis minus 10 Grad.