Zeitalter der Angst: Zur Geschichte und Wirkung eines immerwährenden Gefühls
Im Jahre 1947 veröffentlichte W. H. Auden (1907–1973), der 1935 Erika Mann geheiratet hatte, um ihr zu einem englischen Pass zu verhelfen, seinen großen Versdialog „Das Zeitalter der Angst“. Es handelt sich um Gespräche über die Weltlage in einer New Yorker Bar – im Stil einer barocken Eloge, die schon nichts anderes war als das Zitat altrömischer Hirtengedichte. Mit dem Titel des Gedichts gab er seiner Gegenwart eines der entscheidenden Stichwörter.
Das Bild der Gegenwart in uralten Spiegeln zu brechen, ist eine moderne, eine postmoderne Technik, die bei ihm einherging mit einer Rückwendung zum christlichen Glauben. Er feierte nach den Verheerungen, den inneren wie den äußeren, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, überall eine Wiedergeburt.
Angst hat wieder Konjunktur
1963 diskutierten im Rahmen der „Darmstädter Gespräche“ u.a. Ernst Bloch, Friedrich Heer, Walter Jens und Werner Maihofer über „Angst und Hoffnung in unserer Zeit“. Angst klang mitten im Wirtschaftswunderland ganz anders als in der Ruinenlandschaft der Nachkriegsjahre. Ich las die Protokolle der Tagung während meines Mathe-Abiturs. Der Buchtitel war eine ironische Provokation, Primanerhumor.
„Angst“ hat heute wieder Konjunktur. Wer „Deutschland den Deutschen brüllt“, der hat Angst vor Überfremdung, fürchtet, „die Ausländer“ nähmen ihm den Arbeitsplatz, die Wohnung und den Sozialstaat weg.
Angst muss man ernst nehmen, heißt es. Das stimmt. Das heißt aber nicht, dass man jedem, der behauptet, Angst zu haben, das auch glauben muss. Schon der nationalsozialistische Hass auf Juden versteckte sich hinter der Behauptung, man habe Angst vor der Überfremdung. Die wahren Angreifer waren die Juden, sagten die Antisemiten. Sie aber seien die Opfer, die sich mühsam verteidigen müssten gegen die übermächtige Bedrohung durch die Juden.
Angst vor der Möglichkeit eines Atomkrieges
Als die Antisemiten die Macht hatten, gaben sie sich mit der Zurückdrängung des jüdischen Einflusses nicht zufrieden. Da ging es dann um die „Endlösung der Judenfrage“, um die Vernichtung aller Juden. Die Triebfeder, so zeigte sich jetzt, war nicht die Angst, sondern es war der Hass und die Chance, ihm freien Lauf zu lassen.
Als Auden 1947 „Das Zeitalter der Angst“ ausrief, konnte er nicht wissen, dass gerade eine der Epochen größter Prosperität der westlichen Welt begonnen hatte. Mitten in einer Welt äußerster Angst. Denn das erste Mal war die Menschheit – dank der Atombombe – in der Lage, sich und einem großen Teil des Lebens auf diesem Globus den Garaus zu machen.
Wir reden vom Kalten Krieg und vergessen dabei, dass jene Zeit für sehr viele Länder auf der Erde eine Zeit sehr heißer Kriege und Bürgerkriege war. Und über all diesen Schrecken lag die Furcht vor der Möglichkeit eines Atomkrieges zwischen der UdSSR und den USA.
Ängste sind flüchtig
Auch dieses Zeitalter der Angst haben wir überlebt. Die atomare Bedrohung ist nicht geringer geworden, aber wir haben uns entschlossen, sie nicht mehr zu sehen. Statt der Bombe fürchten wir heute die Atomkraftwerke. Wir tun das aus guten Gründen. Aber wir sehen: Ängste sind flüchtig. Sie suchen sich immer wieder neue Schrecken. Als das „Waldsterben“ uns noch bewegte, sprachen die Nachbarn gerne von „German Angst“ und sprachen den Deutschen eine besondere Affinität zum diffusen Gefühl einer nahenden Katastrophe zu. Ein Erbe der Romantik, eine Todessehnsucht wie bei Bach, wie bei Wagner.
Heute aber, da immer mehr Menschen im reichen Westen oder im fast ebenso reichen Osten behaupten, Angst zu haben vor den Invasionen in unsere Länder, in unsere Sozialsysteme, da stellt sich heraus, dass es sich um keine deutsche Angst handelt, sondern um eine, die England in den Brexit und die USA in die Hände eines durchgeknallten Milliardärs treibt, der behauptet, ihm ginge es darum, die USA wieder groß zu machen.
Zu Angst und Hass gehört Hoffnung
Zeitalter der Angst sind Zeitalter des Hasses. Wer ans Gute im Menschen glaubt, neigt dazu, den Hass als eine Reaktion auf die Angst zu sehen. Aber er selbst wird, wenn er den Hass sieht, es mit der Angst zu tun bekommen. Die beiden treiben einander an.
Es fällt schwer, auf die sich ausbreitende Unübersichtlichkeit mit Neugier zu reagieren. Die verworrenen Knoten sich multiplizierender Ketten von Ursachen und Wirkungen traut sich doch niemand mehr zu entwirren. Es wächst der Wunsch, nein, die Sehnsucht, nach einem, der sie durchschlägt, der sich nicht darum schert, die alten Geflechte am Leben zu erhalten.
Zu Angst und Hass gehört auch immer die Hoffnung. Sie steht den beiden anderen nicht entgegen. Sie wirkt in und mit ihnen. Der Hass auf den Status quo wird genährt von der Idee, dass doch etwas anderes möglich sein muss. Wir nennen das nicht gerne Hoffnung, weil wir uns angewöhnt haben, sie nur positiv zu sehen. Aber natürlich wissen wir, dass die Utopie einer judenfreien Welt eine Antriebsfeder des Antisemitismus war.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt“
Hoffnung und Vernichtung haben immer wieder zusammengehört. Wer eine klassenlose Gesellschaft möchte, wird die Klassen abschaffen. Bisher geschah das stets durch Massenmord. Übrigens nicht nur an den Vertretern der sogenannten Ausbeuterklassen, sondern durchaus auch an den Ausgebeuteten. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagen wir. Die Hoffnung ist aber auch beim Morden von Anfang an dabei.
Man kann heute und nun gar bei uns über ein Zeitalter der Angst nicht sprechen, ohne das Christentum zu erwähnen. In seinen Anfängen bildeten die Christen eine jüdische Sekte, die getrieben war von der Angst vor dem unmittelbar anstehenden Jüngsten Gericht. Es kam alles darauf an, sich zu Jesus als dem Sohn Gottes zu bekennen. Nur dann hatte man eine Chance, freigesprochen zu werden und das ewige Leben zu erlangen. Je länger das jüngste Gericht auf sich warten ließ, desto plastischer wurden die Höllenqualen ausgemalt, die denen drohten, die sich nicht zu Jesus bekannten.
Die christliche Kirche lebt von der Drohung
Die christliche Kirche schürte die Angst. Sie lebte von der Drohung. Riesige Vermögen werden ihr bis heute anvertraut, damit sie ein gutes Wort einlegt beim Herrn, bei der Jungfrau Maria oder bei einem der vielen Heiligen. Glaube, Liebe, Hoffnung. Das klingt in unseren Ohren nur positiv. Aber wer es aus der Geschichte nicht erfahren mochte, der kann heute jeden Tag erleben, wie sie zusammenwirken, wenn es um Unterdrückung, Ausbeutung und Vernichtung geht.
Die Kämpfer des Islamischen Staates führen ihre Kriege voller Glaube, Liebe und Hoffnung. Sie hoffen auf das ewige Leben, sie glauben ihren Glauben zu leben, wenn sie morden, und sie tun es aus Liebe zu Gott und zu ihrer Glaubensgemeinschaft. Sie wurden angegriffen, erniedrigt und beleidigt – so sehen sie das – und jetzt gehen sie zum Gegenangriff über. Der Täter scheint sich als Opfer darstellen zu müssen, um seine Totschlägerei ins Werk setzen zu können.
Ein Akt der Selbstverteidigung
Es gibt nur sehr wenige Zeugnisse von Menschen, die beschreiben, wie sehr ihnen die Erniedrigung anderer hilft, sich besser zu fühlen. Es herrscht kein Mangel an Erklärungen, man habe dieses oder jenes tun müssen, weil es vernünftig war, es zu tun. Die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki zum Beispiel.
Noch häufiger hört man, was wir vom Schulhof kennen: „Der hat angefangen.“ Die eigene Bluttat war nichts als ein Akt der Selbstverteidigung. Das hat den Vorteil, dass man ruhig mal übers Ziel hinausschießen kann, jeder versteht, dass man im Eifer des Gefechts, in der Wut über das erlittene Unrecht, die Verhältnismäßigkeit mal aus den Augen verlieren kann.
Ohne Ambiguität keine Identität
Wir müssen uns nicht für dumm verkaufen lassen, wir müssen niemandem glauben, dass er aus Angst handelt. Wer mit ein paar Freunden auszieht, um „Ausländer zu klatschen“, der mag vor allem möglichen Angst haben – vor Ausländern hat er sie ganz offensichtlich nicht.
Heinz Bude schreibt „Ohne die Anderen kein Selbst, ohne Ambiguität keine Identität, ohne Verzweiflung keine Hoffnung, ohne Anfang kein Ende. Dazwischen ist die Angst.“ Und ihre Schwester die Wut. Die Wut zum Beispiel darüber, dass man nicht einfach man selbst sein kann, dass zu Ende geht, wovon man bis dahin nicht wusste, dass man daran hing.
Zerstörung und Aufbau gehen Hand in Hand
Die Welt, in die wir hinein geboren wurden, gibt es nicht mehr. Alles ist anders geworden, und nichts hört auf, sich zu ändern. Wer erlebte, wie der „erste sozialistische Staat auf Erden“ zu einem abgeschlossenen Sammelgebiet wurde und jetzt, eine Generation später, noch immer nicht das Gefühl hat, auf festem Boden zu stehen, der bekommt es mit der Angst zu tun. Er mag sich sehnen nach Gewiss- und Sicherheit.
Aber sie sind nirgends in Sicht. Für niemanden. Nirgendwo auf dem Globus. Im Zeitalter der Angst des Dreißigjährigen Krieges schrieb Andreas Gryphius (1616 –1664):
Genau das ist unser Eindruck. Wir sind eher noch unsicherer, denn wir sehen, wie auf Wiesen in wenigen Jahren mächtige Städte oder auch riesige Slums entstehen. Zerstörung und Aufbau gehen Hand in Hand und niemand weiß, ob dem einen das andere folgen wird.
W. H. Audens Hirtengedicht war, ohne dass er das wusste, ein Nachruf auf ein bereits zu Ende gegangenes „Zeitalter der Angst“. Dem war eine Zeit vorangegangen, in der die „Angst vor der Katastrophe“ geschürt wurde. Lange bevor sie eintrat.
Angst legt ganze Gesellschaften lahm
Angst blendet. Wer den Brief vom Finanzamt nicht öffnet, wird nicht erfahren, dass er Geld bekommen soll. Angst legt ganze Gesellschaften lahm. Es gibt Menschen, die glauben, Zivilisation sei nichts anderes als ein Schutzmantel, der uns die Angst nehmen soll. Die Angst vor den anderen und vor uns.
Aufklärung hat sich immer verstanden als die Anstrengung, den Menschen aus der Angst vor dem Unbekannten zu helfen. Das ist ein wenig anders verlaufen. Vor einhundert Jahren wurden unsere Grundkoordinaten Raum und Zeit schon infrage gestellt. Aber heute wissen wir, dass all das, was wir kennen und nicht kennen, gerade mal fünf Prozent ausmacht von dem, was ist. Über die 95 Prozent dunkler Materie und Energie wissen wir nichts.
Der Blick in die Zukunft
Wir haben allen Grund, uns unsicher zu fühlen in der Welt. Darüber hat die Aufklärung uns aufgeklärt. Sie hat uns die Welt nicht wohnlicher gemacht. Das „macht Euch die Erde unteran!“ war ein Aufruf, keine Angst zu haben. Inzwischen wissen wir, dass wir sie uns nicht unterwerfen können, solange wir nicht begreifen, dass wir ihr unterworfen sind.
Man habe früher auf die Zukunft gehofft, jetzt blicke man ihr voller Angst entgegen, heißt es. Ich weiß nicht, ob das so stimmt. Ich bin heute im zarten Alter von 72 gespannter auf die Zukunft, als ich es 1968 war. Die Welt hat sich seit damals so gewaltig geändert und so völlig unvorhergesehen, dass ich weiß, dass keine Hochrechnung einem die Zukunft voraussagen kann.
Die Angst entmenschlicht
1968 dachte ich in alten Metaphern: „Sozialismus oder Barbarei“. Ich rechnete und dachte, 23 Jahre Frieden in Europa, das wird es nicht noch einmal geben. Ich hatte Angst und hoffte: Bonn ist nicht Weimar. Das waren angstgetriebene, aber auch sehr provinzielle Zukunftsbilder. Aus dieser Angst bin ich hinausgetreten, und ich weigere mich, mich von ein paar Damen und Herren in sie zurücktreiben zu lassen, die ausgerechnet jetzt, da es Deutschland so gut geht wie selten in seiner Geschichte, behaupten, Angst um Deutschland zu haben.
Der Mensch, sagt man uns, sei das einzige Tier, das seinen Tod denken könne. Daher rühre die Angst, die ihn erst zum Menschen mache. Ich glaube das nicht. Die Angst entmenschlicht. „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ Das denkt Hans Castorp in Thomas Manns „Zauberberg“.