Zum Tod von Dimiter Gotscheff: Mein Feind hat kein Gesicht
Er war der mit dem Grimm im Blick, den wilden Haaren und dem Grummeln in der Stimme. Der jeden Kompromiss verachtete. Der von einem Theater der Unbedingtheit träumte. Der Anatom auf der Suche nach dem Elementaren, Rudimentären in der Menschenseele. Er war der Unversöhnte, der Radikale. Er wollte der Welt in die Räder fassen. Er verlangte alles von seinen Schauspielern, Mitarbeitern und von sich selbst, weil es alles braucht, um die Welt zu begreifen und zu verändern. Wenn man sie begreifen und verändern kann.
Dimiter Gotscheff ist tot. Am 26. April diesen Jahres war er 70 Jahre alt geworden, und er hatte noch viel vor. Im März sollte am Wiener Burgtheater Becketts „Endspiel“ herauskommen, im Juni am Deutschen Theater „Warten auf Godot“. Gestern, am frühen Sonntagmorgen ist er in Berlin nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Er trank viel, er rauchte viel. Er starb viel zu früh.
Es sollte stets etwas Eigenständiges sein
In seiner Inszenierung von Aischylos’ „Persern“, 2007 am Deutschen Theater: Nur eine drehbare Wand, nur Worte, Blicke, Gänge. In „Iwanow“, zwei Jahre zuvor an der Volksbühne: Viel Leere, Nebel und Sätze, die klangen, als seien sie in einem Himmel verloren gegangen, den es nie gegeben hat. „Tartuffe“ vor sechs Jahren am Thalia-Theater Hamburg: Konfetti, Luftschlangen und eine Komik, der die Bösartigkeit im Hals stak. „Immer noch Sturm“, die Uraufführung des Peter-Handke-Stücks vor zwei Jahren bei den Salzburger Festspielen: Eine Schwarz-Messe, mit verwischten Figuren im Blättersturm. Seine besten Arbeiten waren immer strenge, scharfkantige Sprechopern in Tragödien-Moll. Es sollte stets, hat er gesagt, „etwas absolut Eigenständiges“ sein, was auf der Bühne stattfand. Es war etwas absolut Eigenständiges. Der Kopf begriff es nicht immer, der Bauch umso deutlicher.
Gotscheff ist tot. Es wird jetzt in Superlativen gesprochen werden. Es wird von Heiner Müller und Samuel Finzi, von seiner Frau Almut Zilcher, Wolfram Koch, Margit Bendokat und der Gotscheff-Theaterfamilie geredet werden. Es ist leicht, im Moment der Trauer und des Verlusts zu vergessen, wie dieser Künstler war: ungemein streng im Umgang mit Texten, unnachgiebig aufs Existenzielle gerichtet. Ja, Gotscheff: Ein Sehrgroßer, ein Theaterumstülper, einer, der den Apparat zum Schwitzen, die Schauspieler zum Zittern brachte. Aber er taugt nicht zum Klassiker, zum Sockelsteher.
Immer habe ihn „die Welt der Höhlenmalerei fasziniert“, sagte er vor Jahren: „Nur diese Zeichen bleiben, alles andere verblasst.“ Alles andere, den Tand, die Illusionen, die Macht- und Menschenleichtgläubigkeit hat er von der Bühne verbannt. Radikalität hieß für Gotscheff, dorthin zu gehen, wo nichts mehr ist außer Schmerz und Dringlichkeit. Er hat den Punkt nicht immer gefunden, es gab auch seltsam luftlose Abende, aber er hat das Theater nie an die Wattewelten der Schönfärberei verraten. Und er wusste früh, was Niederlagen und Triumphe im Theater sind. 1990 hat ihm Günter Krämer kurz vor der Premiere die Regie für Brechts „Fatzer“ weggenommen; zwei Jahre später wurde seine Kölner Inszenierung „Fräulein Julie“ mit Almut Zilcher und Bernd Grawert beim Berliner Theatertreffen gefeiert.
Ehrlich über die verlogene Welt
Immer ehrlich von einer Welt spielen, die uns mit Lügen kommt – das war sein Motto. Ehrlich sein, also auch derb: Er konnte anrufen und ins Telefon murmeln „Das-ist-doch-scheiße“, wenn ihm nicht gefiel, was man geschrieben hatte. Er rief immer nur deshalb an, sonst nie.
Dimiter Gotscheff wurde in Bulgarien geboren, 1962 kam er nach Ostberlin. Er wollte Tierarzt werden und wurde Mitarbeiter von Fritz Marquardt und Benno Besson. 1979 ging er nach Bulgarien zurück, 1985 wurde er nach Westdeutschland eingeladen. Er blieb und inszenierte in Köln, Hannover, Düsseldorf, Hamburg, in Wien und Berlin, zuletzt in München. Er blieb damals, um des Theaters willen. „Heimat“, hat er gesagt, „das ist die Probe.“ Und Heiner Müller.
In jedem Gotscheff-Porträt, in vielen Kritiken und Interviews kam die Rede auf den 27. März 1983. So ist ein Brief Heiner Müllers datiert, den er „an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von ’Philoktet’ am Dramatischen Theater Sofia“ adressiert hat. Müller schrieb, Gotscheff habe ihn das Stück neu sehen lassen; er schrieb vom „Drama der Ent-Täuschung“, von der Bühne als „Ort des Exils“. Er habe „nur Bahnhof“ verstanden damals, sagte Gotscheff in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung. Aber er hat von Heiner Müller nicht mehr gelassen, seine Texte später auch „manchmal“ verstanden.
Es gab durchaus Gotscheff-Abende ohne Müller-Zwischentexte und Untertöne. Aber es hat vermutlich nie einen gegeben, in dem nicht gerungen worden wäre. Mit der leeren Bühne und dem Nebel, Konfetti, Schaum oder dem Licht. Gotscheff hat immer Ringer-Theater gemacht. Es kämpfte mit dieser unseren komischen Welt, den noch komischeren Menschen, dem sowieso komischen Theater. Von einem Berserker war oft die Rede. Vielleicht trifft es das. Gotscheff, der Textzerwühler, der Weltenzornige. Aber zwischen der Wut, dem Zorn hauste viel Zärtlichkeit, viel Zerbrechlichkeit.
Den Wind an die Sonne nageln
Am deutlichsten ist mir seine „Philoktet“-Inszenierung an der Volksbühne in Erinnerung, herausgekommen vor acht Jahren, am 76. Geburtstag von Heiner Müller, 41 Jahre nachdem er den Text erstmals gelesen hatte. Sein „Urknall“. Sepp Bierbichler saß herum und trank Whisky, Samuel Finzi saß da und hat Augen gemacht, und Gotscheff versuchte, den Text vorzulesen. Sie haben sich Vers für Vers durch den Text gebissen. Geschwiegen, gesessen, gesoffen, gerungen. Als ob der Traum des Gotscheff-Theaters das Wegsitzen und Niederringen des Theaters wäre. „Mein Schrecken war: mein Feind hat kein Gesicht. / Könnt ich mir selber in die Augen sehn / Den Wind mit Pfeilen an die Sonne nageln“, sagt Philoktet. Gotscheff sprach es, als wolle er es dennoch immer wieder versuchen: Den Wind an die Sonne nageln, den Feinden ein Gesicht geben.
Das war die Gotscheff-Kunst: Das Vergebliche spielen, ohne sich der Vergeblichkeit in die Arme zu werfen. Sein Theater war wie ein großes schartiges Gebirge, man konnte es nie mit leichtem Schuhwerk und Sonnenhut besteigen. Bei Gotscheff brauchte es wetterfeste Kleidung, Steigeisen am besten. Und dennoch verlief man sich, stürzte man ab. Es ist schlimm, auf diese Abstürze verzichten zu müssen.