Die sinnesfroheste Stadt der Welt

Éric Hazan beschreibt „Die Erfindung von Paris“ und auch den rasenden Reporter von 1789 Rétif de la Brétonne. Von ihm gibt es „Die Nächte von Paris“ zu lesen.

Paris, Blick auf die Avenue de la Grande Armee und La Defense.
Paris, Blick auf die Avenue de la Grande Armee und La Defense.imago images/Werner Dieterich

Eigentlich war er Herzchirurg, sein eigenes Herz schlug für seine Heimatstadt Paris. Sie hat Éric Hazan wie kaum ein anderer bis in den letzten Winkel erkundet, und zwar unter dem Motto: „Kein Schritt ist vergebens.“ In dem Buch „Die Erfindung von Paris“ berichtet er nicht nur von der stetigen Erneuerung der Stadt in allen Epochen, von der Beseitigung ihres mittelalterlichen Kerns mit den engen, verschmutzten Gassen, von der Befreiung zur Weite auf den eleganten Boulevards durch Baron Haussmann. Er weist dabei auch auf die Zerstörung der populären Quartiers von Belleville und Montparnasse in den 1970er-Jahren hin. Auf die folgte indes in den vergangenen Jahrzehnten eine behutsame Stadterneuerung mit viel Grün und weniger Verkehr. Auf seinen Rundwegen durch Paris folgt Hazan den Spuren der Flaneure aller Zeiten, spürt dem Geist und der Geschichte der Orte nach, sodass der Leser sich von ihm mitgenommen fühlt. Einer dieser manischen Flaneure war Rétif de la Brétonne. Über ihn schreibt Hazan: „Er war wohl der Erste, der die Freuden des nächtlichen Umherstreifens beschrieben hat, den Rausch, der denjenigen ergreift, der allein und ohne Ziel auf gut Glück durch die Straßen zieht.“

Rétif war der rasende Reporter der Pariser Nächte kurz vor und während der Revolution von 1789. Die Nacht war für ihn nicht zum Schlafen da, und so hastete er, während der brave Bürger schlummerte, durch die volkstümlichen Viertel der Stadt, traf auf Gauner, leichte Mädchen, Nichtsnutze, Totschläger, Grabräuber, Radaubrüder, Bücherschmuggler. Als Informant der Polizei – er trug unter dem Mantel eine Uniform –, wurde er selbst von ihr bestens informiert. Alles, was er sah, erzählte er einer wohl erfundenen Marquise, notierte es auf 4000 Seiten, setzte und druckte es, denn er war Schriftsetzer von Beruf. Reinhard Kaiser hat aus seinen Notizen eine Auswahl von 528 Seiten getroffen, in denen Rétif von der verborgenen, dunklen Seite des Lebens in der „sinnesfrohesten Stadt der Welt“ berichtet. Man liest das wie einen spannenden Abenteuerroman, zugleich wie ein Soziogramm von Paris in der Zeit der Revolution in Ergänzung zu Hazan. Sein Buch ist ein Muss für alle Paris-Kenner und die, die es noch werden wollen.

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Éric Hazan: Die Erfindung von Paris. Aus dem Französischen von Michael Müller und Karin Uttendörfer. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 589 S., 38 Euro.

Rétif de la Bretonne: Die Nächte von Paris. Ausgewählt und aus dem Französischen übersetzt von Reinhard Kaiser. Galiani Berlin, 2019. 528 S., 28 Euro.