Landolf Scherzer wanderte 400 Kilometer auf dem Kolonnenweg, der einst Thüringen von Bayern und Hessen trennte, er ging in die Dörfer hüben und drüben und sammelte Begegnungen: Der Grenzgänger

Ich solle ein paar Häuser weiter beim alten Hübner vor-beigehen. "Der kann Ihnen erzählen, wie es hier vor 1961 an der Grenze war."Eine alte, freundliche Frau öffnet. Ich frage nach ihrem Mann. Sie bedauert. "Der ist gerade rüber in die Ostzone.""In die Ostzone?""Ja, zu seinem Cousin. Der wohnt in der Ostzone, in Wohlmuthausen.""Haben Sie im Osten noch mehr Verwandte?""Nein, wir haben sonst keine Kontakte nach drüben. Die sind irgendwie anders, die dort in der Ostzone.""Wie anders?""Sie sind eben anders. Wie genau anders? Das kann ich nicht sagen."------------------------------Nach dem Gewitterregen scheinen die Berge in der klaren Luft zum Greifen nahe, und die Wiesen dampfen. Unter mir liegt das hessische Dippach. Am ersten Haus rechts an der Straße ins thüringische Unterweid stehen polierte Gebrauchtwagen. Der Autohändler, ein junger Mann mit kantigem Gesicht und Drei-Tage-Bart, der gerade vom Hof fahren will, hat nur für ein Fünf-Minuten-Gespräch Zeit. Ich frage ihn nach den ersten Wendejahren, als die Grenze geöffnet war und die Ostdeutschen "ein Westauto" fahren wollten, gleich, wie viel Jahre die "Wagen" auf dem Buckel hatten. Er erinnert sich gern an den "warmen Regen", der auf sie niederging. "Doch der hörte auf, als man sich gerade dran gewöhnen wollte. Unsere Finanzämter filzten damals alle Autohändler an der Grenze und holten sich von denen 'ne volle Flocke."Der Autohändler Hartmut Jacob, ein gelernter Maschinenschlosser, besitzt noch eine Autofiliale in Frankfurt am Main. "Nach der Wende hatte ich manchmal fünfzig Autos im Angebot, aber hier an der ehemaligen Grenze ist der Boom wohl endgültig vorbei. Im Osten fehlt das Geld, und die Leute in den bayerischen und hessischen Orten wechseln ihre Autos genauso selten wie ihre Unterhemden."Er schwärmt von der Wendezeit. Die Ostdeutschen, die er damals kennen gelernt hat, waren locker, freundlich und vertrauensvoll. "Wenn ich dort in einer Gaststätte saß, fragte der Kellner: ,Möchten Sie vielleicht noch ein bisschen Soße? Oder noch ein paar Pommes?' Aber das ist vorbei. Nun sind die drüben fast so wie wir. Und das Schlimmste: Sie wollen noch besser sein! Wenn unsereiner in einer Nacht mal rund tausend Euro durchgebracht hat, kommt garantiert ein junger, dynamischer Ossi und sagt: ,Ich hau tausendfünfhundert Euro in einer Nacht auf den Kopf!'"So verdattert, als ob gerade wieder ein Blitz neben mir eingeschlagen hätte, frage ich, ob er das ernst gemeint hat und wie man in einer Nacht tausend Euro ausgeben kann.Er nennt mir eine Bar in Oberhof."Und wie viel Leute braucht man, um tausend in einer Nacht ...?""Vier bis fünf reichen allemal."Als er bemerkt, dass ich seine Antworten aufschreibe, sagt er, dass er mir aufs Dach steigen wird, falls ich ihm ein "Autohändler bescheißen"-Image anhänge. "Es sind die großen Autohäuser, die, um ihre neuen, teuren Wagen verkaufen zu können, von den Kunden jeden Schrott annehmen und ihn bei kleinen Händlern oder auf den Polenmärkten verhökern. Die Großunternehmen der Autobranche wollen jetzt den Ruf der kleinen Händler schädigen und sie damit endlich ausschalten, wie das die Lebensmitteldiscounter mit den Tante-Emma-Läden gemacht haben."Er habe, sagt er, immer ehrlich verkauft. "Ich kann es mir hier nicht erlauben, meine Kunden zu bescheißen. So was spricht sich sofort wie ein Lauffeuer rum. Wir kleinen, alteingesessenen Autohändler leben nur vom Vertrauen der kleinen Leute, die sich keinen neuen Mercedes leisten können."Ich gehe nicht nach Dippach hinein, sondern laufe vom Autohändler an der Grenze ins thüringische Unterweid. Dort hieß, erinnere ich mich, die Polytechnische Oberschule "Ernst Putz". Der im bayerischen Bad Brückenau geborene kommunistische Reichstagsabgeordnete hatte konsequent die Interessen der armen Rhönbevölkerung vertreten. Die Nazis ermordeten ihn 1933.Im ersten Haus öffnet niemand. Das zweite ist eine neu gestrichene Mehlmühle. Vor der Tür stehen Kästen mit Blumen. An den Wänden hängen Ampeln mit Blumen. Und am bergigen Hanggarten hinter der Mühle pflanzt eine Frau Blumen. Ich frage sie nicht, ob die Schule noch nach Ernst Putz benannt ist, sondern ob die Mühle noch arbeitet. "Seit 1972, da hatte man wohl kein Korn mehr, steht sie still." Das Mühlrad haben sie erst 1992 vom letzten Mühlradtischler in Oberkatz bauen lassen. "Es war holzfarben, und ich wollte es dunkel streichen. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, mache ich das eigentlich auch. Ich habe die Mühle von außen selbst gemalert." Inzwischen aber ist das Mühlrad verwittert und auch ohne Anstrich dunkelgrün geworden.Martina Herbarth, die "Müllerin", wird vierundvierzig und hat bis zur Entlassung achtundzwanzig Jahre in der Rhönmöbelfabrik gearbeitet. Dann ließ sie sich zwei Jahre zur Floristin umschulen. "Aber wer braucht heute noch eine der zu Tausenden umgeschulten Floristinnen? Niemand stellte mich ein. Da habe ich - obwohl mein Mann es mir nicht zugetraut hätte - im Februar in unserer alten Mühle mein eigenes Blumengeschäft aufgemacht."Es läuft gut. "Wir werden schon überleben."Bevor ich gehe, frage ich doch nach der "Ernst Putz"-Schule. Ob sie noch so heißt, weiß sie nicht. Im Moment interessiere sie die Gegenwart mehr als die Vergangenheit. "Das kann ja ein guter Mensch gewesen sein, dieser Ernst Putz, aber hilft mir das heute? Höchstens, falls man an seinem Geburts- und Todestag Blumen oder Gebinde niederlegt. Doch wenn das ein Kommunist war ."Statt zur Grenze zurückzulaufen, frage ich, ob im Dorf Männer oder Frauen wohnen, die Partner aus dem Osten geheiratet hätten."Geheiratet nicht", sagt eine Frau. "Aber die Kircher in Knottenhof lebt mit einem aus Empfertshausen zusammen. Ein anständiger Bursche."Ich treffe die beiden in der Küche beim Kochen an. Das heißt, sie kocht, und er liest Zeitung. Der damals 27-jährige Peter Weih und die 22-jährige Yvonne Kircher haben sich beim Tanz kennen gelernt."Und heiraten?"Sie schaut vom Kochtopf auf und sagt empört: "Kaufen Sie wegen einem Glas Milch gleich 'ne ganze Kuh?" Er protestiert. "Das ist mein Spruch, den hat Yvonne von mir."Sie arbeitet als Kinderkrankenschwester in drei Schichten. Weil er aus Empfertshausen kommt, nehme ich an, dass er was mit Holz zu tun hat. "Tischler oder Schnitzer?""Nee, die Zeit ist vorbei." Sein Großvater ist mit inzwischen neunzig Jahren zwar der älteste lebende Schnitzermeister in Empfertshausen, aber dieses Gewerbe habe keine Zukunft mehr. "Wenn der Opa es früher mal geschafft hatte, 'ne geschnitzte Figur in den Westen zu verscherbeln, erhielt ich dafür von ihm fünf Westmark ... Mit fünf Westmark in den Intershop! Da konntest du dir fast all deine Herzenswünsche erfüllen. Und heute? Geh heute mal mit fünf Euro in den Laden und erfüll dir Herzenswünsche ."Er arbeitet in Schichten im Lager einer hessischen Transportfirma."Gibt es dort Ost-West-Konflikte?", frage ich."Nee. Wenn einer was Bösartiges gegen uns Ossi-Kollegen sagt, kriegt er wegen Störung des Betriebsklimas vom Westchef eine Abmahnung."Und zu Hause zwischen ihr und ihm?"Wir streiten uns über alles mögliche, aber bei uns kleinen Leuten vom Land ist es inzwischen normal, dass Thüringer und Hessen heiraten." Yvonnes Bruder hat mit einer Frau aus Empfertshausen schon zwei Kinder. Und Hans-Wilhelm Kalb hat in der "Linde" in Empfertshausen seine Frau, eine DDR-Lehrerin, kennen gelernt und sie hierher auf seinen schönen großen Hof am Dorfausgang geholt.Ich schlage mich links vom Kolonnenweg auf der hessischen Seite des Flussufers durch mannshohe Brennnesseln, sehe in der Ferne Günthers, doch je länger ich in der Hoffnung, dort eine Raststätte zu finden, in diese Richtung laufe, umso weiter entferne ich mich von der Grenze. Zur Kaffeezeit erreiche ich den Ortseingang. Am alten Bahnhofsgebäude, das offensichtlich zu einer Gaststätte umgebaut wird, finde ich einen Hydranten, an dem ich mir kaltes Wasser über die von Brennnesseln geröteten Arme laufen lassen kann. Das Hotel "Zur Ulsterbrücke" ist anscheinend schon seit Monaten verwaist.So gehe ich über die Brücke und marschiere ohne Stärkung zur Grenze zurück. Vor Apfelbach finde ich den Kolonnenweg wieder und mache mich an die letzte Wegstrecke. Allerdings schaffe ich es, weil ich hungrig bin, nicht mehr bis Hof-, Mittel- oder Oberaschenbach und laufe, immer noch über die abgerissene Grenzbrücke fluchend, in das thüringische Dorf Ketten.Das erste Haus links, ein neues Doppelhaus, steht vor einer großen, kurzgeschorenen Zierrasenwiese mit akkurat geschnittenen Sträuchern und gepflegten Rabatten. Nirgends eine Dreckecke, keine Brennnesseln, kein Unkraut."Wenn man sich wie wir beim Bau schinden musste, pflegt man das selbstgeschaffene Eigentum besonders heftig", sagt mir der vielleicht vierzig Jahre alte Hausherr. Er hat 1989 mit dem Vater zu bauen begonnen. "Wir waren nicht im kommunalen Plan für den Eigenheimbau und haben deshalb weder staatlich zugeteilte Ziegelsteine noch Zement erhalten. So mussten wir alles selbst, oft mit Hilfe von Freunden und Verwandten, ,schwarz' besorgen. Steine und Mörtel haben wir auf einer schiefen Ebene hinauftransportiert wie die alten Ägypter beim Pyramidenbau. Zur Revolution 1989 waren wir mit dem Rohbau fertig."Danach - "so als hätte das Volk die Revolution nur für unseren Hausbau gemacht" - bekamen sie Fliesen, Heizung, Badgarnituren, was sie alles noch brauchten, sozusagen über Nacht frei Haus geliefert."Tu, was du kannst, und den Rest gibt dir der Herr dazu", sagt er und nickt, als müsse er sich selbst bestätigen. Ketten ist wie viele Orte um die katholische Hochburg Geisa ein strenggläubiges Dorf. "Schon in der DDR gingen hier trotz Agitation in der Schule von fünfundvierzig Achtklässlern höchstens zwei bis drei zur Jugendweihe. Alle anderen erhielten auch damals die Kommunion."Mir Ungläubigem habe der Herr heute nicht geholfen, sage ich und erzähle von der an der Ulster weggerissenen NVA-Brücke. Da sagt der Hausherr, so als wären Zufälle die alltäglichste Sache der Welt: "Diese und andere Brücken an der Grenze habe ich seinerzeit mitgebaut und nach der Wende auch wieder abgerissen!"Edgar Erb arbeitete bis zum Jahr 2000 beim Brückenbau Geisa. Er hatte Autoschlosser gelernt, aber wegen der Ölkrise war er von seinem Ausbildungsbetrieb nicht übernommen worden. Man vermittelte ihn zu einem Baubetrieb, wo er später auch die Widerlager für die Grenzbrücken montierte. "An der Ulster waren wir dabei nur ein paar Schritte von der Grenze entfernt. Ein Posten stand ständig neben uns, und ein anderer Posten bewachte den Posten, der uns bewachte."Abhaun?"Der gehbehinderte Bruder meines Vaters lebte damals noch, und man haut nicht einfach ab, wenn man einen Behinderten im Haus hat." Aber auch sonst wäre er geblieben, denn er sei bodenständig. Als im Jahr 2000 der Brückenbau Geisa von einem westdeutschen Betrieb übernommen wurde, verzichtete Edgar Erb auf seinen Job. "Brücken in den Alpen oder im Rheinland zu bauen, war mir zu weit von zu Hause weg." Er bekam eine neue Stelle als Schweißer beim Fahrzeugbau in Geisa. "Ich hatte Glück im Leben: erst mit dem Haus und dann mit der Arbeit. Wie ich schon sagte: Tu, was du kannst ..."Ich vollende: ". und den Rest gibt der Herr dazu."Sein Vater Karl gesellt sich zu uns. Er habe mit seiner Frau ein Leben lang als Bauer schwer gearbeitet. Heute, sagt er fröhlich lachend, werde er aber wieder seinen besten Anzug anziehen "zu unserer Prozession für einen fruchtbaren Boden".Wie streng sie es mit dem katholischen Glauben noch halten würden, frage ich den Sohn. Ob er auch erst nach der Hochzeit ...?Statt zu antworten, lacht er nur.Sein Vater aber meint, dass in der DDR die Gebote der Kirche von allen Gläubigen ernsthafter befolgt worden wären, "denn da mussten wir uns am Glauben festhalten. Heute dagegen, heute schlafen manchmal die Kirmesburschen schon nach einer Nacht mit ihren Kirmesmädchen. Zu meiner Zeit passierte da nichts vor der Eheschließung. Wir waren ."Ich laufe in Richtung des hessischen Aschenhausen. Doch schon hundert Meter neben der Grenze stehen im Talgrund, von großen Bäumen versteckt, ein alter einsamer Bauernhof und ein neueres, barac- kenähnliches Häuschen. Ich klingele an der Tür des Hofes. Eine leise sprechende und wahrscheinlich auch schlecht hörende Frau öffnet das Fenster. Ich frage, wer außer ihr in dem Haus wohnt. Sie beginnt sofort und sehr lange ihr Schicksal zu beklagen. "Nur ich. Nur ich wohne noch hier. Ich bin hier einsam und verlassen. Von allen Menschen verlassen, wissen Sie. Die Kinder, außer der einen Tochter, die wollten nicht auf dem Lörnhof bleiben. Die Rhön war arm, und die Rhön ist arm." Früher hat sie hier eine Pension betrieben. "Die Leute kamen bis aus Frankfurt wegen meines guten Essens. Bis aus Frankfurt. Nach der Wende auch Ostdeutsche. Aber jetzt bin ich bald achtzig und allein und verlassen. Von allen Menschen verlassen .""Und wer sorgt sich um Sie?""Der liebe Herrgott.""Und wer kauft für Sie ein?""Die Tochter, die wohnt im Haus nebenan."Ich klingele bei der Tochter. Eine sehr robust aussehende Frau mit wirren Haaren und verschwitzter Bluse öffnet. Ich frage sie nach ihrem Leben in den letzten fünfzehn Jahren hier in dieser Einsamkeit."Uns geht es seit der Wende schlecht. Sehr, sehr schlecht. Meine Katzen sind weg! . Und mein Mann hat seine Arbeit beim Großhandel verloren. Ich bin auch nicht mehr in der Mahnabteilung der Stadt beschäftigt. Wir leben hier am Rand. Am Rand der Menschheit. Und die Katzen erst .""Was ist mit den Katzen?""Nach der Wende sind hier viele Katzen verschwunden. Das gab es vorher noch nie.""An der Straße vor dem Hof überfahren?""Nein, die sind eingefangen, gestohlen worden. Für Versuchsanstalten im Osten. Gegen Geld geklaut.""Für welche Versuchsanstalten?""Wenn ich das wüsste, hätte ich schon die Polizei hingeschickt." Wenn sie auch nur geahnt hätte, sagt sie, dass die Grenze neben dem Lörnhof irgendwann aufgemacht würde, hätte sie ihre Wohnung in Hünfeld nie verlassen.Ich frage nach ihrer fast 80-jährigen Mutter, ob die vielleicht Hilfe braucht und .Sie unterbricht mich. "Da muss man eben rechtzeitig vorsorgen. Und nicht erst jetzt anfangen zu jammern. Aber die Katzen ."Ich bemerke, dass die Mutter drüben hinter dem Fenster steht, und verlasse den dunklen, mir plötzlich unheimlichen Ort sehr schnell.Obwohl der Regen nachgelassen hat, laufe ich nicht den Kolonnenweg weiter, sondern gehe hinüber ins thüringische Reinhards, um mich dort nach den verschwundenen Katzen vom Lörnhof zu erkundigen. Nur wenige Häuser stehen zwischen Wiesen und Äckern. Vor einem Hof ist unter einer Madonna die Bitte zu lesen, dass sie den Menschen beistehen solle, damit "uns Gott barmherzig sei". Auf dem nächsten Hof zerrt ein hin und her rennender, wütend bellender Hund an einer langen, gespannten Laufleine. Wie früher an der Grenze, muss ich wieder denken. Nur warnte dort kein Schild: "Vorsicht, bissiger Hund!"Ein oder zwei Höfe weiter kehrt eine sehr kleine Frau die Straße. Sie kennt die Frauen vom Lörnhof. "Die waren in der Zeit der großen Seligkeit, also in den ersten Monaten nach der Grenzöffnung, sehr oft hier im Dorf. Aber als ob die Grenze wieder zu wäre, blieben sie plötzlich weg."Der nächste starke Regenguss vertreibt uns von der Straße. Unter der Haustür stehend, sagt sie, dass ihre Freude über die Einheit bisher ungetrübt sei, "im Gegensatz zu einigen Leuten, die gern die DDR wiederhaben möchten, weil sie heute immer noch nicht wie erhofft wie im Paradies leben. Wir sind nicht mehr eingesperrt, können überallhin fahren."Ihr Mann kommt vom Kühefüttern. Seinen grünen Schlapphut hat er so tief über die Ohren gezogen, dass die Krempe fast mit dem Schnurrbart abschließt. Ihre dreiundzwanzig Hektar große Landwirtschaft betreiben sie genau wie ihre zwei Ferienwohnungen als Nebenerwerb, "aber nicht als Nebensache". Am Eingang zu den Ferienwohnungen hängt das Güteprädikat "Familienfreundlich 2004 bis 2006".Sie gehören zu denen, die ihr ehemaliges Grenzland zurückkauften, obwohl es nur noch ein verwildertes Terrain war, früher mit Minen, heute noch mit Betonplatten und dem Kfz-Graben. Manche Flächen hat der "Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)" dem Staat abgekauft, um den Grenzstreifen als ein "Grünes Band" von seltenen Pflanzen und Tieren zu erhalten."Als wir in der DDR das Land für die Grenze hergeben mussten, hatten wir keine Wahl, denn die Kommunisten drohten: ,Pass auf, Freundchen, entweder du unterschreibst den Kaufvertrag, oder wir siedeln dich aus.' Also haben wir verkauft. Für acht DDR-Pfennige pro Quadratmeter."Nach der Wende konnten sie ihr Land vom neuen Staat für 35 West-Pfennige pro Quadratmeter zurückkaufen."Und heute, fünfzehn Jahre danach, möchte man es uns für billiges Geld wieder abkaufen, um den Kolonnenweg von hier aus bis zum ehemaligen amerikanischen Stützpunkt ,Point Alpha' als einen Gedächtniswanderweg zu rekonstruieren." Doch sie wollen ihr Land jetzt nicht zu Dumpingpreisen weggeben. "Wissen Sie, was in fünfzehn Jahren hier sein wird? Ob dann überhaupt noch jemand einen Grenzgedächtniswanderweg braucht? Dann sollen wir das Land womöglich noch einmal und noch teurer zurückkaufen. Nein! Beständig und wertvoll bleibt nur das Eigentum!"Als ich nach den "geklauten Katzen" vom Lörnhof frage, drucksen beide herum. Er meint, dass die Frau drüben wohl eine Wahnvorstellung habe, einen Tick . Er redet nur mit den Händen weiter."Wir und Katzen klauen! Hier laufen so viele Katzen herum, dass einige ihre schon für teuer Geld sterilisieren lassen." Doch bei Nachbarsleuten haben Polizisten - "Die Ärmsten müssen das nach einer Anzeige tun" - schon in der Scheune nach den Katzen gesucht. "Das ist kein Ost-West-Problem. Man braucht Schuldige. Da kommen die Ossis gerade recht. Ausländerheim ist ja keins in der Nähe."Von Reinhards in Richtung "Point Alpha", einer der markantesten Beobachtungsstationen der US-Streitkräfte in Europa, ist der Grenzstreifen an manchen Stellen unpassierbar, denn auf großen Haufen verfault vor langer Zeit geschlagenes Holz, und Felder und Weiden, die mit Stacheldraht umzäunt sind, verraten nicht mehr, wo die Grenze früher entlanglief. Als ich den Kolonnenweg bei Setzelbach wiedergefunden habe, führt er geradewegs in einen neuen großen Stallkomplex. Auch der Anbau eines Wohnhauses steht wahrscheinlich haargenau an der heutigen Grenzlinie zwischen Hessen und Thüringen. Ein junger Mann baut sich in der Garage ein Auto auf. Ich frage nach der Grenze."Unser Haus steht noch auf Westgebiet, der neue Stall dagegen schon im Osten. Der gehört jedoch einer hiesigen Familie, den Wingenfelds." Ein Hinzukommender erklärt mir, dass die Wingenfelds den Stall wegen der Fördergelder und der Milchquote drüben gebaut haben."Also war die Wende gut für sie?" frage ich."Ja, wenn man will, gehören die zu den Wendegewinnlern."Weil die Wingenfelds am anderen, dem grenzfernen Ende des Dorfes wohnen, muss ich fast durch das ganze Dorf laufen. Eine Frau wischt die Treppe vor der Tür. "Stefan soll mal rauskommen", ruft sie in das Haus.Stefan ist um die Vierzig. Er trägt einen Armeepullover der Bundeswehr, am Ärmel das schwarzrotgoldene Hoheitszeichen. Er trägt den Pullover bestimmt schon lange, denn er ist sorgfältig gestopft. Über die finanziellen Dinge, Fördergelder für den Stallneubau und die Kühe drüben, will er nicht reden, es gebe so viele Neider. Sie besaßen früher schon Land in Thüringen. Nun haben sie wie andere auch ehemalige LPG-Felder dazu gepachtet."Also ist das Problem mit dem Grund-und-Boden-Eigentum nach der Wende vernünftig geregelt worden", sage ich.Sein Vater, Franz-Joseph, hat sich neugierig zu uns gestellt und widerspricht mir sehr heftig. "Nichts ist vernünftig geregelt. Unser Land drüben, das hatten doch Ulbricht und Honecker gestohlen. Nachdem sie den Zaun gebaut hatten, konnten wir diese Felder nicht mehr bestellen. Es wurde auch keine Pacht und nichts bezahlt, wir waren enteignet. Also Ulbricht und Honecker waren die Stehler. Und der Kohl in Bonn, der war der Hehler. Der hat das gestohlene Land, nachdem der Honecker verjagt war, behalten, und das gestohlene Land dann an uns, die Eigentümer, noch einmal verkauft."Ich frage, wie sie mit den Thüringer Bauern auskommen, mit denen sie nun Feld an Feld arbeiten. Der Junge behauptet, dass die Mauer jetzt höher ist als früher. Man kann sie zwar nicht mehr anfassen, aber sie ist da. Und der Alte erklärt mir, dass es beispielsweise Streit gibt, wenn sie die Ecken ihres Feldes rund ackern. "Ein Traktorist sagte mir, dass ein Boss der Agrargenossenschaft ihn angewiesen hat, mit mir lieber nicht mehr zu reden. Oben dran sind bei denen noch die Burschen, die schon damals bei der LPG oben dran waren. Das ist ja klar. Es gab drüben nach 1989 keine Entsozialisierung wie bei uns nach 1945 die Entnazifizierung. In Rumänien hat man da besser aufgeräumt. Ceausescu und die ganze Bande wurden eben umgebracht, weggemacht . "Es ist noch net alles so, die Einheit, gell ." Der Bauer aus Setzelbach, der jetzt Ställe und Felder im Osten hat, lacht.Die hier veröffentlichten Textauszüge sindein Vorabdruck aus Landolf Scherzers Buch "Der Grenz-Gänger", das nächste Woche beim Aufbau-Verlag Berlin erscheint.Das Projekt der Grenz-Wanderungen entstand in Zusammenarbeit mit dem "Freien Wort" Suhl. Der Fotograf Michael Reichel begleitete Landolf Scherzer an verschiedene Orte seiner Wanderung. Daraus entstand das Foto-Buch "Menschen im Grenzland", das zeitgleich bei der Suhler Verlagsgesellschaft herauskommt.------------------------------Foto (5): Landolf Scherzer auf Wanderschaft: "Auf dem Kolonnenweg, der ,Autobahn der Grenzer', konnten die Soldaten ohne Unterbrechung die Staatsgrenze West von der Ostseeküste bis zur CSSR abfahren."Martina Herbarth von der Mehlmühle in Unterweid:Ehepaar Wassermann aus Reinhards:Edgar Erb und sein Vater Karl aus Ketten: