Lange Zeit verbarg sich die urbane Landwirtschaft in Kleingärten und Hinterhöfen. Doch nun trägt eine neue Generation von Asphalt-Bauern ihre Saat ins Zentrum -und verändert damit das Kiezgefüge: Gewächse der Großstadt

Das Huhn pickt im Hof, Rhabarber und Kohlrabi gedeihen auf dem privaten Ackerland hinter der Scheune -solche Szenarien sind auch in Berlin nichts Neues. Ländliche Selbstversorgung in urbaner Kulisse hat bereits bei der Errichtung von Siemensstadt oder der Tuschkastensiedlung eine zentrale Rolle gespielt. Doch während dort inzwischen die Zucht von Gurke, Tomate und Co allenfalls noch als Hobby nach Feierabend eine Rolle spielt, wird auf Brachen und öffentlichen Grünflächen im Herzen der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes Feldforschung betrieben. Das Ziel: ein neues Kiezgefüge, in dem sich Stadt und Land zu einer neuen Stadtlandschaft verbinden."Es gibt zwar große Überschneidungen zwischen der sozialen Utopie von damals und der neuen Bewegung von heute", sagt Christa Müller, Herausgeberin des kürzlich erschienenen Sammelbandes "Die Rückkehr der Gärten in die Stadt". "Entscheidend sind aber die Unterschiede." Sie hat gemeinsam mit ihren Mitautorinnen das Phänomen der Großstadtbauern und -gärtner aus städtebaulicher, historischer, sozialer und ökonomischer Perspektive untersucht und als Phänomen des gesellschaftlichen Wandels beschrieben. "Das Bürgertum ist heute sehr viel selbstbewusster. Die Initiativen entstehen aus der Mitte der Zivilgesellschaft und nicht mehr nur aus der Planung." Ging es damals darum, dass sich die Industriearbeiter zu Hause vom Moloch Stadt erholen konnten, gehe es in der postindustriellen Gesellschaft vor allem darum, neue Verbindungen von Natur und Gesellschaft zu erproben und eine neue Utopie vom Lebensraum Stadt zu entwerfen -denn so, wie sich die Stadt heute auf Kosten des Umlands ernährt, sei sie nicht mehr zukunftsfähig. "Die urbanen Gärtnerinnen und Gärtner begreifen die Stadt als einen Lebensraum, in dem sie selbst produktiv sein können", sagt Christa Müller. Auch wenn eine vollständige Selbstversorgung bislang nur in Ausnahmefällen gelinge, wollen die Menschen zunehmend eigene Erfahrungen mit dem Anbau mit Nutzpflanzen sammeln und so ein Stück Eigenständigkeit zurückgewinnen.In der steinernen Realität der Kieze ein Unterfangen, dass den Beteiligten eine gehörige Portion Idealismus abverlangt. "Meist fehlen in Berlin die passenden Flächen, um nachhaltigen Anbau zu betreiben ", sagt Jan Georg Fischer vom Friedrichshainer Verein Soned, der sich dem Thema Nachhaltigkeit in der Entwicklung und Zusammenarbeit verschrieben hat. "Brachen sind meist schon verkauft, stehen kurz davor oder sind im Bebauungsplan so ausgeschrieben, dass allenfalls eine Zwischennutzung als Anbau- oder Gartenfläche infrage kommt." Im Konflikt mit anderen Nutzungsinteressen müssten Grünschneisen, Ackerflächen und Gärten häufig noch hinten anstehen. Entmutigen lassen sollten sich Großstadtbauern in spe deshalb nicht. "Schon auf dem Fensterbrett, im Hinterhof oder im Gemeinschaftsgarten des Wohnblocks kann man viele Kräuter- und Gemüsesorten selbst ziehen", sagt Fischer. Ausgemergelte oder kontaminierte Böden seien in der Großstadt zwar ein Problem, aber ein lösbares. "Auch über verseuchten Böden kann man noch Beete aufbauen, die man von unten versiegelt und von oben mit guter Mutter- oder Komposterde befüllt." Das hat nicht nur den Vorteil, dass die Pflanzen schadstofffrei gedeihen -im Falle eines Falles lassen sie sich auch recht einfach an einen anderen Ort transportieren. Denn nicht allen gefällt das Gärtnern in der Nachbarschaft -Gerüche und wuchernde Beete stoßen oft auf wenig Gegenliebe."Wir haben uns daran gewöhnt, die Stadt als das Gegenteil von Land zu begreifen", sagt Christa Müller. Doch der Anbau von Nahrungsmitteln, der in den Nachkriegsjahren an den ländlichen Raum delegiert wurde, kehre nun unaufhaltsam in den urbanen Kontext zurück -mit spürbaren Konsequenzen für das gewohnte Bild von Stadt. "Es irritiert natürlich hochgradig, wenn ich am Moritzplatz vorbeigehe und sehe, dass da direkt an der U-Bahn Kartoffeln angebaut werden und dass da Leute zusammen Landwirtschaft betreiben." Noch habe die Stadtplanung den ökologischen und gesellschaftlichen Wert dieser Flächen jedoch nicht voll erfasst. Aber es gebe bereits Tendenzen, entsprechende Projekte in neue, nachhaltige Strategien zu integrieren. "In München könnte zum Beispiel ein komplett neuer Stadtteil als Stadtteil des Erntens entstehen." Im dortigen Agropolis-Planungskonzept wird die urbane Landwirtschaft von Anfang an als wesentlicher Teil der Gesamtplanung einbezogen.Doch auch jenseits solcher Leuchtturm-Projekt sind zahlreiche urbane Gärtner und Bauern bundesweit aktiv. Allen voran in Berlin: "Gärtnern ist derzeit der Megatrend, der alle soziale Schichten erreicht", sagt Frauke Hehl vom Allmende Kontor. Das Berliner Projekt hat seine Basis auf dem Tempelhofer Feld und versteht sich als Wissensspeicher und Lernort sowie als Anlauf- und Vernetzungsstelle der hiesigen Szene. "Ausprobieren, lernen und der Wunsch nach Selbstversorgung steht für viele im Vordergrund, die sich an Gartenprojekten beteiligen. Insbesondere bei Nachbarschaftsgärten ist die Mitgliederstruktur bunt gemischt." Doch auch an Projekten wie Heil- und Therapiegärten oder solchen mit interkulturellem Schwerpunkt fänden sich Alte wie Junge, Begüterte wie Transferleistungsempfänger. "Gerade weil sich hier nicht nur die üblichen Verdächtigen aus dem linken Spektrum zusammenfinden, entwickelt das Gärtnern so eine große Kraft als Bewegung."Auf die Pflanzfolge kommt es anBeim Thema Selbstversorgung ist sie jedoch skeptisch: Möhren, Rüben, Kohlrabi und Tomaten, viele einheimische Kräuter, aber auch Thymian oder Pfeffer gedeihen in Berliner Hinterhöfen zwar prächtig, ihr Anbau in größeren Mengen sei jedoch arbeits- und flächenintensiv. "Wer strategisch so aussät, dass die Fruchtstände aufeinander folgen, kann sich große Teile des Jahres mit frischen Vitaminen aus eigenem Anbau eindecken. Bei den meisten dürfte es jedoch kaum mehr als für ein paar leckere Mahlzeiten im Kreise der Freunde reichen." Immerhin: Das gemeinsame Erntefest ist bei vielen Vereinen fest im Jahreskalender verankert. Da kann man unter Gleichgesinnten wenigstens ein bisschen den Selbstversorgerstolz vergangener Bauerngenerationen nachfühlen.Ist Berlin also dabei, tatsächlich das Dorf zu werden, dass es dem Sprichwort nach schon immer war -oder nicht? "Ob die Selbstversorgung der Städter eine Zukunft hat, hängt natürlich auch davon ab, wie teuer künftig Lebensmittel sein werden und wie sich private und politische Initiativen mit staatlichen Programmen verzahnen", sagt Christa Müller. Auch die Frage, wie sich die konventionelle Landwirtschaft künftig entwickelt, spiele eine entscheidende Rolle. Die gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir die Flächen der Städte künftig nutzen wollen, die als Hinterlassenschaft der Industriegesellschaft in vielen Metropolen brach liegen, hat gerade erst begonnen. Aber dass sich Städter nun auch um die gemeinsame Einlagerung von Obst kümmern und Anbautipps austauschen, ist wohl der erste Schritt auf dem Weg zu einer produktiven Stadtlandschaft, die nicht länger am Tropf des Umlands hängt.------------------------------MEIST FEHLEN IN BERLIN DIE PASSENDEN FLÄCHEN; UM NACHHALTIGEN ANBAU ZU BETREIBENFoto: Naturerfahrung: Auf den Kinderbauernhöfen im Mauer- und Görlitzerpark erfahren bereits die Jüngsten, dass Stadt und Land kein Gegensatz sein muss.Foto: Ausprobieren, lernen und der Wunsch nach Selbstversorgung treibt die neuen Gärtner an.