Leitartikel: Der Mindestlohn und sein Preis
Die Mehrheit der Bürger will ihn. Die zivilisierten kapitalistischen Länder haben ihn. Und die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD werden ihn nun endlich auch nach Deutschland bringen: den einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn. Er wird, so viel ist sicher, die sozialdemokratische Errungenschaft des schwarz-roten Regierungsprogramms sein. Gar nicht sicher ist indes, ob er auch zum Erfolg wird. Denn die 8,50 Euro pro Stunde, auf denen die SPD beharrt, sind zu viel des Guten.
Die Gefahr ist groß, dass bei einem derart hohen Einstieg die negativen Wirkungen überwiegen. Das gilt gewiss für Ostdeutschland und wahrscheinlich auch für Gesamtdeutschland. Was passiert, wenn die ersehnte Einführung des Mindestlohns sich als Flop herausstellen sollte? Richtig, die Gegner werden triumphieren. Und das sind in der deutschen Wirtschaftsforschung und -politik sehr viele. Fast alle Forschungsinstitute und Denkfabriken in Deutschland sind gegen den Mindestlohn. Scheitert er, weil er zu Beginn zu hoch angesetzt worden ist, siegt die ideologische Schule gegenüber der pragmatischen ein weiteres Mal.
Das Gros der deutschen Ökonomen ist getrieben von der sehr deutschen Sichtweise, dass alle Preise sich ausschließlich am Markt bilden und nicht per Gesetz verordnet werden sollten. Sie lassen sich von der Freiheit des Tausches leiten, die per definitionem keine Ausbeutung kennt.
Früher hieß der Mindestlohn Arbeitslosengeld II
Da spielt gewiss die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rolle. Gegen den Sachverstand dirigistischer Ökonomen und ohne Vorbild im Ausland gab Wirtschaftsminister Ludwig Erhard 1948 die Preise frei. Und wie durch ein Wunder füllten sich die Regale in den Geschäften. Seither meinen die hiesigen Ökonomen, sich in fast allen Fragen eine vom internationalen Mainstream abweichende Meinung erlauben zu dürfen.
So auch beim Mindestlohn, den die USA, Großbritannien und 20 weitere EU-Staaten seit langem kennen. Dabei hatte Deutschland bis zur Agenda 2010 bereits einen impliziten Mindestlohn. Er hieß nur anders, funktionierte ökonomisch betrachtet aber ähnlich. Es war das Arbeitslosengeld II, das in der Regel deutlich über Hartz IV lag und bis zur Rente gezahlt wurde. Wer nahm freiwillig einen Job an, der ihn finanziell schlechter gestellt hätte als das Arbeitslosengeld II?
Diese implizite Lohnuntergrenze schleifte Rot-Grün mit der Agenda 2010. Seither kann die ungleich verteilte ökonomische Macht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wieder von ersteren ausgenutzt werden. Seither ist der Lohn der unteren Hälfte der Arbeitnehmer inflationsbereinigt gefallen. Sie können sich heute von ihrem Lohn weniger leisten als vor zehn Jahren.
Genau dort setzt der Mindestlohn an. Er stoppt die Spirale nach unten. Indem er die Schwächsten schützt, hilft er auch den Zweitschwächsten. Da der niedrigste Lohn, der für den Hilfsarbeiter, öffentlich ist, wird der Vorarbeiter mehr verlangen – und auch bekommen. So beeinflusst der Mindestlohn die Lohnstruktur im untersten Segment. Und über höhere Einkommen kann der richtig gesetzte Mindestlohn sogar Jobs schaffen und für Wachstum sorgen, was deutschen Ökonomen nie einleuchten wird, aber durch Studien eindrucksvoll belegt ist.
8,50 Euro muss im Osten scheitern
So richtig und überfällig er also ist, so fatal ist die von der SPD verlangte Höhe von 8,50 Euro. Für die westdeutsche Wirtschaft mag das Experiment gelingen, im Osten muss es scheitern. Zwischen einem Viertel und einem Drittel der ostdeutschen Jobs wird zum Teil deutlich niedriger bezahlt. Das mag empören, ist aber Realität. Der hohe Mindestlohn würde wie ein Kostenschock auf die ostdeutsche Wirtschaft wirken, Jobs vernichten und die wirtschaftliche Schwäche für viele Jahre zementieren.
Wo liegt die richtige Lohnuntergrenze? Darüber sollte eine Expertenkommission aus Vertretern der Wissenschaft, der Arbeitgeber und Gewerkschaften entscheiden. Diese Kommission überprüft jedes Jahr die Wirkung des Mindestlohns und hebt ihn solange an, wie die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt zu vernachlässigen sind. Nach wenigen Jahren kann dabei sogar mehr als 8,50 Euro herauskommen. Aber zu Beginn mit einem der höchsten Mindestlöhne in Europa zu starten, ist mehr als töricht. Es wäre Verrat an den Niedriglöhnern und dem sinnvollen Regulierungsinstrument.
Die Koalitionspartner sollten einfach das britische Modell kopieren. Es gilt als sehr pragmatisch und kennt sinnvolle Ausnahmen. Wenn die SPD den Mindestlohn zum Erfolg machen möchte, sollte sie von den 8,50 Euro ablassen und ihre Kraft auf die Frage verwenden, wie dessen Einhaltung überwacht werden kann.