Leitartikel: Die Akte Mollath

Als Kurt Tucholsky wieder einmal Zeuge des Versagens der Justiz geworden war, nachdem er gehört und gesehen hatte, wie das Recht von Richtern in der Weimarer Republik mit Füßen getreten wurde, schrieb er wütend resigniert: „Das muss man gesehen haben. Da muss man hineingetreten sein. … Reißt dieser Justiz die falsche Binde herunter! Wir haben keine Justiz mehr.“

Es wäre falsch und ungerecht, der Justiz im Jahr 2013 dieses Urteil als noch immer aktuell entgegenzuschleudern. Wer aber das Schicksal Gustl Mollaths kennt, der von der bayerischen Justiz vor sieben Jahren als gemeingefährlich in die Psychiatrie gesteckt worden ist, wer sich klar macht, dass der Mann noch immer dort sitzt, obwohl sich belastende Zeugenaussagen, Gutachten, die sein Wegsperren befürworteten, und Entscheidungen von Gerichten, die Mollath als Paranoiker im Maßregelvollzug hielten, im Lauf der Zeit als falsch oder fehlerhaft erwiesen, der wird Tucholskys Verdikt nicht komplett als obsolet verwerfen. Denn die Sturheit, mit der die Justiz im Fall Mollath seit Jahren ungerührt Fehler auf Fehler schichtet, die Bedenkenlosigkeit, mit der sie den Verlust an gelebter Lebenszeit im Falle Mollaths in Kauf nimmt, zwingen zur Wiederholung von Tucholskys Aufruf: „Reißt dieser Justiz die falsche Binde herunter!“

Mollath wurde im August 2006 vom Landgericht Nürnberg für gemeingefährlich erklärt, nachdem er seine Frau geschlagen und die Reifen mehrerer Autos zerstochen hatte. Die Richter begründeten die Unterbringung in der Psychiatrie „mit dem merkwürdigen Verhalten“ des paranoiden Angeklagten: „So war der Angeklagte schließlich überzeugt, dass seine Ehefrau, die seit 1990 bei der Hypo-Vereinsbank arbeitete, bei einem ‚riesigen‘ Schwarzgeschäft von Geldverschiebungen in die Schweiz beteiligt sei.“ Nur hat sich später herausgestellt, dass der Verdacht Mollaths begründet, seine Frau tatsächlich in Schwarzgeldgeschäfte verwickelt und eben das der Grund für den Streit zwischen den Eheleuten gewesen war.

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Es hat sich auch herausgestellt, dass das von Mollath der Bank gelieferte, seine Frau belastende Material von der Bank als im Wesentlichen zutreffend befunden wurde, und dass die Frau gedroht hatte, ihn „fertigzumachen“. Vielleicht hätte das Gericht mit der Einweisung Mollaths in die Psychiatrie gezögert, wenn die Richter seine Verteidigungsschrift gelesen hätten. Doch haben sie darauf verzichtet, und das, wie der damalige Vorsitzende Richter bis heute versichert, mit gutem Grund: „Ich lese doch keine 110 Seiten.“ Hätte er hineingesehen, hätte er bemerkt, dass die Verteidigung Mollaths nur auf acht Seiten stand, der Rest waren Kopien von Briefen und anderen Dokumenten. Nachdem die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Unterbringung Mollaths in den Medien immer lauter geworden waren, die bayerische Justizministerin die Staatsanwaltschaft angewiesen hatte, einen Antrag auf Wiederaufnahme zu stellen, tat die bayerische Gerichtsbarkeit, was sie im Fall Mollath gerne macht: nichts. Seit Monaten liegt der Antrag beim Landgericht Regensburg. Er liegt. Und liegt. Und liegt. Der bayerische Ministerpräsident hat das Landgericht jetzt aufgefordert, „zügig“ zu entscheiden. Offenbar kennt er das erste Justiz-Gebot im Falle Mollath nicht, die Maxime Talleyrands: „Nur kein Übereifer.“

Aber an anderer Stelle sind die Richter aktiv geworden. Soeben lehnte die Strafvollstreckungskammer Bayreuth den Antrag Mollaths ab, angesichts des beantragten Wiederaufnahmeverfahrens seine Unterbringung zu unterbrechen. Warum? Es fehle ein neues Gutachten, und es fehle, weil der Gutachter erkrankt sei, und er sei erkrankt, weil er sich angesichts der negativen Bewertung seiner gutachterlichen Tätigkeit im Fall Mollath „extrem beeinträchtigt“ fühle. Günstiger für Mollath lägen die Dinge, wenn es in seinem Fall ein neues Urteil gäbe. Aber was macht der Wiederaufnahmeantrag seit Monaten beim Landgericht Regensburg ? Er liegt.

In diesen Wochen ist ein vorzügliches Buch erschienen, das sich mit Irrtümern und Opfern der Justiz beschäftigt: „Der Richter und sein Opfer – Wenn die Justiz sich irrt“ von Thomas Darnstädt. Die Fälle, die der Autor präsentiert – selbstverständlich kommt auch Mollath vor – sind Fall für Fall erschütternd. Denn in der Strafjustiz ist ein Fehlurteil häufig für den Betroffenen nur ein anderes Wort für Existenzvernichtung. Darnstädt behauptet nicht, dass Justizirrtümer die Regel seien, aber eine Rarität sind sie offensichtlich nicht. Und Darnstädt macht einen Vorschlag, wie sich ihre Zahl reduzieren ließe: „Ein Richter, der fahrlässig die Wahrheit verfehlt … sollte dasselbe Haftungsrisiko haben wie ein Arzt oder ein Flugkapitän.“ Die Akte Mollath gibt ihm recht.