Leitartikel: Was uns Europa wert ist
Ein Zitat: „Europa kann man nur von jenseits des Ozeans aus sehen. Von Peking, Buenos Aires und Kinshasa aus sieht man es gut. Aber man kann Europa nicht von Berlin, Ljubljana, Odessa oder Sarajevo aus sehen, weil zu viel Deutschland, Slowenien, zu viel Ukraine und Bosnien im Weg stehen. Deshalb haben die Leute in Europa nicht die geringste Ahnung davon, wie Europa aussieht. Sie wissen nicht, wo es anfängt oder aufhört, sie wissen nicht, wer diese berühmten Europäer sind, wie sie sind oder wie sie sein sollten. Und deshalb ist Europa immer noch Europas größtes Geheimnis.“
Der Slowene Goran Vojnovic hat diesen kurzen Text beigetragen zum Manifest europäischer Schriftsteller, das kürzlich in Berlin entstand. Europa ist Europas größtes Geheimnis. So milde kann man es ausdrücken. Ein Geheimnis kann entschlüsselt werden. Europa könnte sich kennenlernen und dann beginnen wertzuschätzen, was es hat, und was es ist. Es könnte erkennen, wie einmalig dieser Staatenbund auf der Welt ist, wie lange schon der Frieden zwischen ehemaligen Erzfeinden hält und wie relativ gut es uns Europäern materiell geht. So jedenfalls kann man Vojnovics Satz lesen.
Der Blick auf das real existierende Europa allerdings ist ernüchternd und ohne jede Poesie. Europa ist den Europäern kein Geheimnis. Es wird dämonisiert. Als zu groß, zu bürokratisch, zu bevormundend. Je länger wir zusammen sind, desto mehr streben wir auseinander, je mehr Länder sich uns zuwenden, aufgenommen werden wollen in die Gemeinschaft, desto weniger schätzen wir den Wert unseres Zusammenseins. Wie muss man sie deuten, die Wahlerfolge der Euroskeptiker? Warum gewinnen separatistische Bewegungen so an Kraft und Attraktivität?
Offenbar glauben die Le Pens in Frankreich, die Jobbiks in Ungarn, die AfD in Deutschland, die Wahren Finnen und all die anderen, man könne in Europa wirtschaftlichen Erfolg von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit trennen. Sie agitieren gegen Europa und damit gegen ihr eigenes besseres Leben, das sie der Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft zu verdanken haben. Und sie scheinen so viel Macht über die Köpfe zu besitzen, dass sich selbst angeblich überzeugte Europäer infizieren lassen. Warum sonst sagt die Kanzlerin so offenkundigen Unsinn wie: Europa ist keine Sozialunion? Und warum plakatiert die SPD den nationalistischen Satz: Nur wenn Sie SPD wählen, kann ein Deutscher Kommissionspräsident werden? Ein Deutscher?
Europa ist unersetzbar
Seltsam, wie schnell in den europäischen Ländern vergessen wird, wie klein und schwach wir alle einzeln wären. Selbst ehemalige Weltreiche wie Spanien, Portugal und Großbritannien wären nichts ohne Europa und könnten ihre Krisen nicht überstehen. Länder wie Lettland, Polen oder Kroatien hätten nach dem Fall der Mauer keine Chance auf wirtschaftlichen Aufschwung gehabt. Wahrscheinlich wäre die Mauer nie gefallen, hätte es kein stabiles Europa gegeben, in das Deutschland politisch fest eingebunden ist. Und heute? Die Wahlbeteiligung in Lettland ist eine der niedrigsten in Europa.
Nehmen wir es positiv und sagen: Europa ist den Menschen eine Selbstverständlichkeit. Ja. Aber Europa ist nicht selbstverständlich. Europa ist unersetzbar – will man auf relativen Wohlstand, auf Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Stabilität nicht verzichten. Aber Europa ist nicht unumkehrbar. Wer glaubt, man könne es quasi experimentell endlos strapazieren durch egoistische Kritik, durch Sonderwünsche und Sonderinteressen, und Europa würde das schon aushalten, der irrt. Europa ist stabil, und doch ein fragiles Gebilde.
Es ist ein denkwürdiges Zusammentreffen, dass am selben Tag sowohl in Europa als auch in der Ukraine gewählt wurde. In Europa leisteten es sich viele, lieber die Sonne zu genießen, als wählen zu gehen. In der Ukraine mussten sich die Bürger ihr Wahlrecht erkämpfen. Es wurde geschossen, gekämpft und gestorben. Wo wir uns abarbeiten an Glühbirnen, Olivenölkännchen und Gurken, wissen viele Ukrainer: Es geht um Freiheit, Selbstbestimmung und Frieden.
Was lehrt uns das? Wir sind immer am Anfang. Wir haben uns nie genug angestrengt, nichts ist sicher und vieles in Europa noch lange nicht in Ordnung. Die Schriftstellerin Mely Kiyak hat im europäischen Manifest hinterlassen: „Vielleicht ist das der größte Traum: Ein Kontinent, versöhnt mit sich. Weil jeder Bürger eines jeden Dorfes, einer jeden Provinz, eines jeglichen Landes seinen Frieden gemacht hat mit sich und seiner Geschichte. Und sie erzählt. In seiner Sprache. Wenn das Europa wäre, wie schön wäre das!“
Ja, wie schön wäre das.