Leitartikel zu Anschlägen von Kopenhagen: Dänemark darf seine Diskussionskultur nicht verlieren

Zweihundert Schuss zählte die Polizei in dem Kopenhagener Café. Es gab einen Toten. Der hatte vor dem Lokal gestanden. Die Menschen in dem Café hatten sich zu Boden geworfen und waren zum Notausgang gerobbt. Unter ihnen der französische Botschafter in Dänemark. Er erzählte der Zeitung Le Monde: „Ich bin mit dem Fahrrad angekommen, also auf dänische Art, und bin in einem gepanzerten Fahrzeug wieder abgefahren“. Er fügte noch einen schrecklichen Satz hinzu: „Ich habe ein Umkippen der Gesellschaft erlebt.“

Ich hoffe, der Botschafter übertreibt. Ich will nicht glauben, dass die dänische Gesellschaft – und sei es auch nur metaphorisch – umsteigt in gepanzerte Fahrzeuge. Es war der 2. Januar 1971, als der damalige Innenminister von Nordrhein Westfalen Willi Weyer erklärte: „Die Bürger müssen sich an den Anblick von mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten gewöhnen wie ans Steuerzahlen“. Damals führten, wie Heinrich Böll es formulierte, sechs einen Krieg gegen sechzig Millionen. Es waren damals schon ein paar mehr Terroristen hier als heute. Damals gab es auch mehr Attentate.

Die Wahrheit hat 1000 Gesichter

Inzwischen wissen wir, dass die Willi-Weyer-Doktrin den Bürgern mehr Angst gemacht hat als den Terroristen. Sie hat denen bei ihrem Geschäft der Verunsicherung geholfen. Der französische Botschafter hat sicher gut daran getan, in einem gepanzerten Wagen zurückzufahren, denn man konnte nicht wissen, ob in der Nähe nicht noch weitere Attentäter standen und bereit waren, ihre Maschinengewehre hochzureißen und zu schießen.

Aber die Bevölkerung hat keine gepanzerten Wagen. Sie hat auch keine Maschinengewehre. Den radelnden Dänen bleibt nur, die Augen offen zu halten, sich in Acht zu nehmen und weiterzumachen.

Genau das werden sie tun. Die einen werden einkaufen, radeln und lesen, die andern tun das auch – und außerdem zeichnen sie und diskutieren weiter über das Recht auf die Geschmacklosigkeit, Jesus, Buddha und Mohammed als Hunde zu karikieren. Und auch darüber, dass die Wahrheit 1000 Gesichter haben kann und mit Geschmacksfragen nichts zu tun hat.

Es gibt kein Patentrezept gegen den Terrorismus. Es gibt übrigens gegen nichts auf der Welt ein Patentrezept. Es gibt nichts als die Anstrengung, den Terrorismus einzudämmen. Ich kann einem jungen Mann, einer jungen Frau nicht mehr entgegentreten, wenn er, wenn sie, mir mit einer Maschinenpistole gegenüber steht. Da bleibt mir nur, mich auf den Boden zu werfen und den Rückzug anzutreten.

Aber wenn ich wieder aufstehe, kommt alles darauf an, dass ich mich dafür einsetze, dass wir uns nicht gegenseitig erschießen oder die Schädel einschlagen, dass die Gesellschaft sich nicht teilt in bewaffnete Bürgermilizen, von denen eine jede versucht, der andern ihren Willen aufzuzwingen. Jeder kann das nur so gut, wie er es eben kann. Der eine bekommt in der Öffentlichkeit den Mund nicht auf. Der andere hat schon Angst, wenn nur ein paar Menschen bei einander stehen. Doch wenn er sieht, wie ein paar Leute sich zusammentun, Schlagstöcke und Messer in den wattierten Jacken verstauen, kann er die Demoleitung anrufen oder auch die 110. Vielleicht kann er einem Freund auch widersprechen, wenn der sich abfällig pauschal über Juden, Muslime oder Christen äußert.

Der Terrorismus hat Gläubige in allen Religionen. Überall auf der Welt. Die dänische Polizei kennt die Identität des von ihr erschossenen mutmaßlichen Täters. Der Mann, der auf ein Café schoss, in dem er den Mohammed-Karikaturisten Lars Vilks wusste, und dann einen weiteren Menschen vor einer Synagoge tötete, war polizeibekannt. Sie hatte ihn, so erklärt sie, wegen seines gewaltbereiten Islamismus „auf dem Radar“. Er habe sich wohl den Pariser Anschlag zum Vorbild genommen.

Es scheint sich jedenfalls nicht um einen dänischen Anders Behring Breivik zu handeln, einen einzelnen Irren also, sondern um einen jungen Mann, der Freunde und Gesinnungsgenossen hatte, dessen Vorstellungen bekannt waren, der wohl zu den tickenden Zeitbomben gehörte, die es ganz sicher auch in Deutschland gibt. Wir wissen: Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz. Schon gar nicht, wenn wir ihn allein der Polizei überlassen.

Es gibt private Vereine und Clubs, die sich an Orten betätigen, wo viele von uns sich nicht hintrauen. Sie helfen dort radikalisierten Menschen, setzen sich mit ihnen kritisch auseinander. Sie leisten mindestens ebenso viel zur Bekämpfung des Terrorismus wie unsere Sicherheitsorgane. Wenn nicht mehr. Ohne sie werden wir scheitern im Kampf gegen den Terrorismus. Deshalb müssen wir sie schützen und so gut es geht unterstützen.