Leitartikel zu Gauck: Die Politik bewegt sich nicht schnell genug

Vor drei Jahren hat Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede zum 3. Oktober festgestellt, dass der Islam heute genauso zu Deutschland gehöre wie Christentum und Judentum. Sein Nachfolger Joachim Gauck stand daher vor der Frage, ob er in seiner ersten Rede zum Tag der Deutschen Einheit mit einem ähnlichen Paukenschlag öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen solle. Er hat sich dagegen entschieden, und dennoch eine politisch nicht weniger brisante Rede gehalten.

Der Unterschied besteht darin, dass Gauck nicht mit einem einzigen provokanten Satz reüssierte, der solche Reaktionen wie die auf die Einlassungen Wulffs hervorrufen dürfte. Vielmehr definierte er drei zentrale Herausforderungen für Deutschland in der zweiten Dekade des Jahrhunderts und benannte die dafür Verantwortlichen: Es sind die Politiker, und zwar namentlich jene, die nach der Bundestagswahl jetzt vor vier Jahren frischer politischer Gestaltungsmöglichkeit stehen.

Die Politik bewegt sich nach dem Urteil des Bundespräsidenten nicht schnell genug. Gauck verwies auf einige Themen, bei denen das offensichtlich ist, weil sie Jahr um Jahr diskutiert werden, ohne dass sich Einschneidendes ändert. Der Pflegenotstand ist da nur ein, freilich herausragendes, Beispiel. Die Energiewende ist ein anderes.

In gewissem Sinn knüpft Gauck hier bei einem anderen Vorgänger an, bei Roman Herzog, der auch schon forderte, es müsse ein Ruck der Reformen durch Deutschland gehen. Dessen Rede blieb augenscheinlich ohne spürbare Konsequenzen.

Ist sie also ein Beispiel für die Einflusslosigkeit der Bundespräsidenten? Immerhin drückte Herzog mit seiner Rede 1997 als konservativer Präsident ein gesellschaftliches Bedürfnis nach einem Wandel der Verhältnisse aus, das ein Jahr später in der Abwahl der ausgebrannten Regierung von Helmut Kohl seinen politischen Ausdruck fand.

Das Verdienst von Gauck

Nun ist zwar nicht die Kanzlerin Angela Merkel abgewählt worden, aber doch eine Regierung, die ebenfalls für gesellschaftspolitisches Verharren stand. Eine Regierung, die neue Herausforderungen lieber totschwieg anstatt sich ihnen zu stellen. Das beste Beispiel dafür ist die digitale Revolution, deren Schattenseite, das maßlose Sammeln von Daten der Bürger, durch den NSA-Skandal so offensichtlich wurde wie nie zuvor. Die Regierung erklärte diesen Abgrund nach kurzem Briefwechsel mit den US-Geheimdiensten einfach für nicht existent, Problem erledigt.

Es ist das Verdienst Joachim Gaucks, das Thema noch einmal intensiv betrachtet und in die richtige, nämlich epochale Dimension gesetzt zu haben. Gauck sprach vom digitalen Zwilling, der von jedem Menschen im Netz entstehen kann. Der Datenschutz sei, so Gauck, zum Erhalt der Privatsphäre so wichtig wie es der Umweltschutz für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen ist.

Er ist der erste Politiker von Rang, der sich diesen Fragen so ernsthaft widmet und fordert, Gesetze, Konventionen und Regeln zu schaffen, die die Menschen vor dem rückhaltlosen Zugriff des Staates und der Wirtschaft auf ihre Daten, also auf ihre Persönlichkeit, schützen. Auch dieser Bundespräsident wird damit keine unmittelbare Wirkung erzielen. Aber er greift ein zumindest in Teilen der Gesellschaft vorhandenes Unbehagen auf und er erhöht den Druck auf die Politiker, ihren Aufgaben endlich nachzukommen.

Das gleiche gilt für den dritten Komplex seiner Rede, die Frage, welche Rolle Deutschland bei der Lösung internationaler Konflikte spielen soll. Auch hier ist es so, dass die Regierungen unter Führung der Kanzlerin Merkel keinem erkennbaren Pfad folgten. Jede zugespitzte Lage führte zu einem haltlosen Lavieren, sei es vor dem internationalen Militäreinsatz in Libyen, der Intervention in Mali oder angesichts der Debatte um ein militärisches Eingreifen in Syrien.

Für jede Option gibt es gute Gründe, dagegen ebenso. Aber die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die deutschen Interessen klar zu definieren und daraus nachvollziehbare Haltungen zu entwickeln. Gauck wurde jüngst in Frankreich mit der Frage konfrontiert, ob in Deutschland die Nazi-Vergangenheit womöglich deshalb so intensiv bearbeitet werde, um einen Grund zu haben, heutigen Konflikten auszuweichen. Wer solche Fragen beantworten muss, weiß, dass die deutsche Haltung viel besser erklärt werden muss.

So wirkt diese Rede wie ein Pflichtenheft, das der Präsident der Politik zu Beginn der neuen Legislaturperiode ausstellt. Joachim Gauck sei womöglich überfordert, amtsmüde, desillusioniert, heißt es in einer demnächst erscheinenden Biografie. Seine Rede zum Tag der Deutschen Einheit spricht eine andere Sprache.