Leitartikel zu Raif Badawi: Geißelung und Selbstgeißelung
Eintausend Peitschenhiebe sind rechtens. So befand das höchste Gericht Saudi-Arabiens. Der seit drei Jahren einsitzende saudi-arabische Blogger Raif Badawi wird zehn Jahre im Gefängnis bleiben und wohl demnächst – womöglich am heutigen Freitag – die nächsten Hiebe erhalten. Als Badawi im Januar die ersten 50 Peitschenhiebe erhielt, schockierte Saudi-Arabien damit weltweit. „Schockiert“ schreibt sich so leicht hin. Man kann auch hinzufügen, dass Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD), als er in Saudi-Arabien war, die Auspeitschung scharf verurteilte.
Doch wird darum ein Panzer weniger nach Saudi-Arabien geliefert? Wird die Ausbildung saudischer Polizeikräfte durch die Bundesrepublik gestoppt? Schaut man sich die saudischen Herren an, die bei uns investieren? Wie viel Menschenrechtsverstöße darf ich begehen, bis ich als Investor nicht mehr infrage komme? Wir mögen angesichts der Peitschenhiebe schockiert gewesen sein, aber dem Schock scheint die Schockstarre zu folgen.
Es vergeht kein Tag, an dem nicht auf die explosive Lage im Nahen Osten hingewiesen wird. Die üblichen Verdächtigen sind Iran und Irak, Israel und die Palästinenser. Die Tatsache aber, dass Saudi-Arabien einer der engsten Verbündete des Westens ist, gehört zu den gefährlichsten Faktoren in der dortigen Gemengelage. Alles Gerede über ein westliches Interesse an der Verbreitung von Freiheit und Demokratie wird in den Augen derer, die sich im Vorderen Orient wirklich dafür einsetzen, ad absurdum geführt durch die Waffenbrüderschaft und das enge wirtschaftliche Bündnis zwischen der religiös grundierten, absolutistisch geführten Monarchie Saudi-Arabien und den westlichen Demokratien.
„1000 Peitschenhiebe“
Raif Badawi, geboren 1984, gründete 2008 das Online-Forum „Saudische Liberale“. Seit 2012 sitzt er im Gefängnis. Seine Ehefrau ist mit den Kindern nach Kanada geflohen. Badawi wurde zu einer Geldstrafe von 240.000 Euro und zu 1000 Stockschlägen verurteilt. Warum? In dem Vorwort zu einer Sammlung seiner Blogs unter dem Titel „1000 Peitschenhiebe“ erklärt Badawi das so: „Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, eine neue Lesart des Liberalismus in Saudi-Arabien zu finden und meinen Teil zur Aufklärung meiner Gesellschaft beizutragen. Ich habe versucht, die Mauern der Unwissenheit niederzureißen, die Heiligkeit des Klerus zu brechen, ein wenig Pluralismus zu verbreiten und Respekt vor Werten wie Ausdrucksfreiheit, Frauenrechten und den Rechten von Minderheiten und Mittellosen in Saudi-Arabien.“
In der Welt wies ein Kollege darauf hin: Während Raif Badawi in seiner Zelle im saudischen Dschidda darauf wartet, an diesem Freitag – wie schon am Freitag, dem 9. Januar 2015 – wieder ausgepeitscht zu werden, halten ein paar Häuserblocks weiter die Vereinten Nationen eine Tagung zur „Bekämpfung religiöser Intoleranz“ ab. Die ersten 50 Peitschenhiebe erhielt Badawi zwei Tage nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo in Paris und damit auch zwei Tage, nachdem die saudische Regierung den Anschlag aufs Schärfste verurteilt hatte.
Der Terrorismus der letzten Jahrzehnte wird zu einem Gutteil von reichen saudischen Familien finanziert. Derzeit sollen 20.000 junge Saudis an den Kämpfen der Terrororganisation Islamischer Staat beteiligt sein. Das gehört mit zur Realität eines der wichtigsten Verbündeten des Westens. Saudi-Arabien ist eine zutiefst zerrissene Gesellschaft. Der Riss geht oft mitten durch die Einzelnen hindurch. Man ist der Beschützer der heiligsten Stätten des Islam, man ist Anhänger und Verfechter des Wahhabismus, einer extrem strengen Form des Islam, man kann diese Funktionen aber nur wahrnehmen, solange man sich auf Waffen, Geld und politische Unterstützung des Westens verlassen kann.
Ein unauflösliches Dilemma, das den einen Bruder Flughäfen und Landstraßen bauen, den anderen Flugzeuge ins World Trade Center und gegen das Pentagon rasen lässt. So geschehen in der Familie Bin Laden. Die Brüder der Kämpfer für den Islamischen Staat unterzeichnen die ihnen von den Amerikanern vorgelegten Antiterrorresolutionen der USA. Jeder weiß das. Keiner ändert etwas daran.
Die Hoffnung Saudi-Arabiens, die Hoffnung des Nahen Ostens, liegt auf Männern und Frauen wie Raif Badawi, die erklären: „Das wahre säkulare Bewusstsein sucht sich keinen Ersatzvater für seinen Säkularismus. Um im Zeitalter der Ähnlichkeiten jeden Verdacht auszuräumen, sagen wir dem Clown, der uns seine spannende Selbstgeißelungsshow – ein bisschen zum Ergötzen, doch mehr noch zum Fürchten – zum Besten gibt: Das islamische Modell ist ohnehin tot. Kein Grund also, sich selbst zu geißeln und die arme Leiche auch noch zu malträtieren.“