Leitartikel zu russischen Truppen in der Ukraine: Das ist kein Bürgerkrieg, sondern Krieg
Wladimir Putin hat das Glück, eine gespaltene Persönlichkeit zu besitzen. Wie leicht lebt es sich doch damit! Wer nicht nur ein Ich hat, sondern mehrere, der spart sich mühsame Festlegungen. Er lässt sich nicht in eine Rolle zwängen, und an den Weggabelungen der Wirklichkeit geht er fröhlich in alle Richtungen weiter. Er kann zugleich Ja und Nein sagen, Täter und Opfer sein, Ich und Nicht-Ich.
Am vergangenen Dienstag hat Wladimir Putin in Minsk den ehrlichen Makler im ostukrainischen Bürgerkrieg gegeben. Er wünsche sich dort eine Waffenruhe, sagte Putin, aber wie die im Einzelnen vereinbart werde, das sei natürlich eine interne Angelegenheit der Ukraine. Russland könne allenfalls „eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen“.
Just zur selben Zeit befanden sich Putins Truppen in der Ostukraine auf dem Vormarsch. Nur mit ihrer Hilfe konnte es den bedrängten prorussischen Rebellen gelingen, im Süden des Donezker Gebiets eine neue Front zu eröffnen. Schon nähert sich diese Front der Hafenstadt Mariupol.
Offiziell gibt es keine russischen Truppen in der Ukraine
Dient das Beschießen ukrainischer Truppen der Vertrauensbildung? Oder ist das nicht vielleicht doch eine militärische Intervention? Wir werden es von Putin nicht hören – das hieße ja, sich festzulegen. Nicht mal seine Armeeführung legt sich fest. Offiziell gibt es keine russischen Truppen in der Ostukraine. Selbst als russische Fallschirmjäger tief in ukrainischem Gebiet gefangen genommen wurden, speiste man die Soldatenmütter mit billigen Notlügen ab – die Männer hätten sich verirrt, hieß es.
Wenn wir von Putins gespaltener Persönlichkeit reden, dann reden wir also nicht von ihm als Privatmenschen – den kennen wir nicht –, sondern von ihm als Politiker und zugleich von dem System, das er geschaffen hat. Zum hybriden Ich des Herrschers passt ein hybrides Regime, das weder Fisch noch Fleisch ist, weder Demokratie noch richtig Diktatur. Widerstand wird in ihm weniger durch Einschüchterung gebrochen als durch die Verwirrung der Begriffe eingeschläfert. Über allem Parteienstreit steht in diesem Herrschaftssystem Wladimir Putin, als wäre er ein völlig unbeteiligter Schiedsrichter.
Dieselbe Herrschaftstechnik wollte Putin auch im Nachbarland anwenden. Russland ist faktisch Partei im Bürgerkrieg in der Ostukraine, aber es hat seine Unterstützung bisher beschränkt und verleugnet. Als es der ukrainischen Armee wider Erwarten gelang, die Separatisten zurückzudrängen, und als Kiew ernsthaft auf einen schnellen militärischen Sieg hoffte, hat Putin einfach mit einem kräftigen Fingerdruck auf eine der beiden Waagschalen das Gleichgewicht wiederhergestellt. Jetzt kann der Konflikt weitergehen.
Die Ostukraine gilt als "Neurussland"
Seine Erklärung dazu, abgegeben in der Nacht auf Freitag, ist doppelzüngig. Es ist ein Appell an die „Volkswehr Neurusslands“ – das ist die Wortwahl der Neoimperialisten, die unter „Neurussland“ die halbe Ukraine verstehen. Putin gratuliert den Separatisten darin zu ihrem Erfolg gegen die ukrainischen Truppen, deren Operation „eine tödliche Gefahr für die Einwohner des Donbass“ dargestellt hätte.
Gleichzeitig jedoch fordert er die Rebellen auf, einen „humanitären Korridor“ für den Abzug ukrainischer Soldaten zu schaffen. Vom Anteil russischer Truppen ist keine Rede. Wladimir Putin spielt wieder mal den unbeteiligten Dritten, der vom Rand des Schlachtfelds aus zusieht, gratuliert und zu einer noblen Geste gegenüber Kiew auffordert.
Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russland in dieser Woche eine neue Grenze überschritten hat. Aus dem Bürgerkrieg, mit russischer Unterstützung für die eine Seite, ist ein Krieg zwischen Soldaten regulärer Armeen geworden. Dass man die gefallenen russischen Soldaten geheim beisetzt, wie einst die ersten Toten der sowjetischen Intervention in Afghanistan, ändert nichts daran.
Eine Niederlage für uns alle
So steht Europa am Ende dieses Sommers am Rande eines Abgrunds, so wie es vor hundert Jahren am Rande eines Abgrunds stand. Es ist eine Niederlage für uns alle, dass es überhaupt wieder so weit gekommen ist. Es hat keinen Sinn, die Schuld allein bei Moskau zu suchen oder dem Kreml zu unterstellen, er verfolge einen vorgefassten Plan zur weiteren Aufteilung und Unterwerfung der Ukraine. Wladimir Putin hat keinen Plan. Aber macht es das besser?
Er spricht von Frieden und führt Krieg, er spricht von Vertrauen und zerstört es hundertfach, er will Ordnung und meint Unordnung. Es ist in der Ostukraine kein Frieden möglich ohne Russland. Aber es ist auch kein Frieden möglich mit Russland, solange dessen Führung nicht zu den eigenen Handlungen steht.