Leitartikel zum Boykott der Militärparade in Moskau: Merkels Gedenkenspiele
Der Geschichte kann man nicht entkommen. Aber man kann mit ihr umgehen, kann mit ihr auch argumentieren. Und manchmal kann Geschichte sogar Hoffnung machen, wenn man Geduld hat.
Angela Merkel hat das neulich gezeigt, als sie an den Bau und den Fall der Berliner Mauer erinnerte, vor allem an den Fall. Der Anlass für ihre Worte war, wie so oft in diesen Tagen, die Ukraine-Krise, oder präziser: der Krieg um die Ukraine.
Merkel will diesen Krieg nicht mit Waffen, sondern mit Politik beenden, mit Geduld. Und deshalb erinnerte sie daran, dass auch beim Mauerbau die Amerikaner nicht militärisch eingegriffen haben, aber diesen Krieg, einen kalten, am 9. November 1989 doch gewonnen haben. 28 Jahre, von 1961 bis 1989, so viel Geduld musste man haben, wenn man glaubte, Frieden ohne Waffen schaffen zu können.
Wer so denkt wie die Kanzlerin, kennt den Wert der Geschichte und des Gedenkens. Daher ist es auch keine Frage, dass sie im Mai dieses Jahres der Befreiung Deutschlands vor 70 Jahren dort gedenken muss, wo diese Befreiung ihren Anfang nahm. In Moskau. Doch steht jener Ort, die russische Hauptstadt, in diesen Tagen nicht für die Freiheit, sondern für die Unterdrückung und die Landnahme durch Wladimir Putin.
Wer wollte sich da schon am 9. Mai an der Seite des russischen Präsidenten zeigen, wenn allerlei Kriegsgerät über den Roten Platz gezogen wird? Die Kanzlerin sicherlich nicht. Wie soll man derart gemeinsam mit Putin den Ausgang des Zweiten Weltkriegs feiern, während einige hundert Kilometer weiter westlich ein Krieg tobt, bei dem niemand befreit wird? Das ist unmöglich, wenn man nicht das Gesicht verlieren will.
Nur, in diesem Fall kann man auch auf andere Weise das Gesicht verlieren, besonders dann, wenn man Deutsche oder Deutscher ist. Sollte man Russland, den wichtigsten Nachfolgestaat der Sowjetunion, sollte man seine Menschen brüskieren und nicht an die Opfer in der Roten Armee und der Bevölkerung erinnern – an jene, die Opfer eines Kriegs wurden, den die Deutschen in die Welt getragen hatten? Hieße das nicht, Geschichte umzudeuten aus Protest gegen die aktuelle Politik Putins? Ja, das hieße es. Und das wäre falsch.
Ehrerbietung ohne Militärparade
Die deutsche Bundeskanzlerin kann nicht mit Putins Militärparade gedenken, sie kann aber auch nicht Russland eine Ehrerbietung vorenthalten, die sich nicht wegdiskutieren lässt. Selbst in Zeiten des kältesten Kalten Krieges gab es ein paar Dinge, an denen nicht gerüttelt wurde, und dazu gehörte stets das Gedenken an die Soldaten der Roten Armee, die Deutschland – gemeinsam mit den Amerikanern, Briten und Franzosen – befreit haben. Was immer auch an Gräueltaten bei der Befreiung Berlins später bekanntwurde, wie viel Unfreiheit die Sowjetunion auch später über den östlichen Teil der Welt gebracht hat – über die Erinnerung an das Ende eines deutschen Krieges kann sich keine Bundeskanzlerin, konnte sich kein Bundeskanzler hinwegsetzen.
Was also sollte Merkel tun, und was tut sie? Sie tut das Richtige, indem sie Putin für die große Show am 9. Mai auf dem Roten Platz absagt. Und sie tut vor allem das Richtige, indem sie dennoch nach Moskau fährt. Einen Tag später, am 10. Mai, will sie einen Kranz am Mahnmal des unbekannten Soldaten niederlegen. Am Mahnmal für jene Soldaten, die damals auch für die Befreiung Deutschlands starben, und die nun nicht in Gedenkgeiselhaft für Putin genommen werden dürfen. Das ist der öffentliche Teil des Bekenntnisses.
Aber es gibt da noch einen anderen, vielleicht wichtigeren: die feine Gedenkverschiebung der deutschen Kanzlerin ist mit Wladimir Putin abgestimmt und abgesprochen. Sie wollen den Kranz sogar gemeinsam niederlegen. Das bedeutet also, dass man weiterhin im Gespräch ist und bleiben will, nicht nur über die Geschichte, sondern vor allem über die Gegenwart, über den Krieg in der Ukraine. Das ist die eigentlich gute Nachricht hinter der Absage Merkels für den 9. Mai. Es geht ihr wieder darum, Geduld zu zeigen, auch wenn viele diese mit Putin nicht mehr haben, und sich auch nicht vorstellen können, dass die 28 Jahre zwischen Mauerbau und Mauerfall ein besonders gelungenes Beispiel für Realpolitik sein sollen.
Wie weit die Geduld reicht, könnte sich im Herbst erweisen. Am 3. Oktober feiert Deutschland den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung. Wieder so ein Gedenktag. Und auch da gibt es Grund, einem Russen zu danken, nämlich Michail Gorbatschow. Ob aber Putin an diesem Oktobertag in Deutschland ein gern gesehener Gast ist, wird sich nicht in Berlin oder Moskau entscheiden, sondern allein in der Ukraine. Dort würde man gerne eines Kriegsendes gedenken, so schnell, wie möglich.