Leitartikel zur deutschen Außenpolitik: Die Lehre aus Srebrenica

Erinnert sich jemand an Srebrenica? In der bosnischen Stadt sind 1995 rund 7000 Männer von serbischen Soldaten abgeschlachtet worden. Als die rot-grüne Bundesregierung sich vier Jahre später zugunsten der Bosnier am Krieg auf dem Balkan beteiligte, sagte Außenminister Joschka Fischer, seine Generation habe sich nicht nur „Nie wieder Krieg“ geschworen, sondern auch „Nie wieder Auschwitz“.

Einen ähnlich gewagten historischen Vergleich hat noch kein Politiker mit Blick auf das Morden der IS-Milizen im Irak bemüht. Aber die moralische Aufladung der Argumente für ein Eingreifen der Deutschen ist beträchtlich. Als erster sprach SPD-Chef Sigmar Gabriel von der Gefahr eines „Völkermords“ an den Jesiden. Der Sog des „Wir müssen doch was tun“ ist so stark, dass selbst in der Linken darüber nachgedacht wird, ob der Export von Waffen auf den Kriegsschauplatz angebracht sei. Ein Grünen-Abgeordneter befürwortet die Beteiligung der Luftwaffe an den Bombardements der Amerikaner. Und Joschka Fischers Nachfolger Frank-Walter Steinmeier ist „angesichts der dramatischen Lage dafür, bis an die Grenzen des politisch und rechtlich Machbaren zu gehen“.

Ein Satz, der Aufhorchen lässt. Gewiss meint es der Sozialdemokrat nicht weniger gut als der Grüne vor 15 Jahren. Aber warum ist es nötig, die Grenzen des Machbaren zu bemühen, wenn man sich der rechtlichen Grundlagen seines Tuns sicher ist? Wer schließlich will noch wagen, eine Grenzüberschreitung zu verurteilen, wenn sie denn vorkommen sollte – „angesichts der dramatischen Lage“?

Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in Bewegung

Von der regierungsamtlichen Beschränkung auf die Lieferung von Decken in den Irak bis zur Bereitschaft der Bundeskanzlerin notfalls mit Waffen auszuhelfen, dauerte es nicht einmal eine Woche. Der Eindruck drängt sich auf, dass da etwa ins Rutschen kommt in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Als erster hat der Bundespräsident diese schiefe Ebene betreten, als er forderte, Deutschland müsse mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. In welches Land deutsche Politiker seither auch reisen mögen – Joachim Gaucks Mahnung verfolgt sie.

Ganz gleich, wie umfassend und ausdeutbar das Staatsoberhaupt sein Plädoyer gemeint haben mag, verstanden wird es in aller Welt eindeutig und brutal: Die Bundeswehr soll nicht mehr nur die Verletzten anderer Länder mit ihren schönen „Medivac“-Flugzeugen von Kriegsschauplätzen heimtransportieren. Die Deutschen sollen endlich bereit sein zu kämpfen und zu sterben. Wie Amerikaner, Franzosen und Briten schon lange.

Vor diesem Hintergrund wirken Gabriel, Steinmeier und Merkel plötzlich gar nicht mehr so offensiv. Vielmehr scheinen sie eher rhetorisch in eine Abwehrschlacht verstrickt, um die Reste dessen zu retten, worauf die westdeutsche Nachkriegspolitik einmal stolz war: die „Kultur der Zurückhaltung“. Ein Begriff, der aus dem politischen Sprachgebrauch verschwunden ist. An diesem Prozess, das sei nicht verschwiegen, sind Teile der Medien nicht unbeteiligt, die immer nur wissen wollen, wann die Bundesregierung – endlich (?) – Waffen oder Kampftruppen schickt.

Diese Kultur als Drückebergerei zu denunzieren, ist falsch. Sie ermöglicht, vor dem Handeln nachzudenken, statt reflexartig zuzuschlagen, nicht weil es wirklich nötig wäre, sondern weil eine Mischung aus Fernsehbildern und Meinungshysterie einen angeblichen Handlungszwang postuliert. Die „internationale Gemeinschaft“, dieses seltsame Konstrukt ist keine Weltpolizei, die jedes Unrecht auf dem Globus zu tilgen imstande wäre. Und die Bundesrepublik Deutschland erst recht nicht. Außerdem ist es durchaus willkürlich, welche Zusammenrottung von Schurken gerade zur Inkarnation des Bösen erklärt wird.

Waffen und Geduld

Deshalb ist es gut, wenn die Bundesregierung ihre Zurückhaltung in Sache Irak nicht Hals über Kopf aufgibt, sondern erst einmal Decken schickt. Und andere Hilfsgüter. Denn die brauchen die jesidischen Flüchtlinge, die den IS-Banden vorerst entkommen sind. Ohne den großen Militärschlag. Mag sein, er wird nötig. Aber machen wir uns nichts vor: Er wird nicht reichen. Auch muss die Frage erlaubt sein, was die Kurden (die bis vor kurzem nicht zu den „Guten“ gezählt wurden) mit den neuen Waffen aus deutscher Lieferung anstellen, wenn sie nach Abflauen ihrer aktuellen Konjunktur feststellen müssen, dass Deutschland und seine Verbündeten ihnen auch künftig keinen eigenen Staat zubilligen mögen.

Keine der „humanitären Interventionen“ der letzten Jahre war so erfolgreich wie die auf dem Balkan. Aber die Bundeswehr steht dort noch heute. Wer dem Morden Einhalt gebieten will, braucht außer Waffen viel Geduld. Das ist die wichtigste Lehre aus Srebrenica.