Leitartikel zur Lage Afghanistans: Was uns das Mandat in Afghanistan lehren sollte

In der Anonymität des Internets hat ein ehemaliger Soldat seine persönliche Bilanz des deutschen Einsatzes in Afghanistan aufgemacht: „Ein halbes Jahr meines Lebens vergeudet, ein halbes Jahr meines Lebens größtenteils in Angst verbracht“. Insgesamt waren es für die Bundeswehr 13 Jahre. Weitere werden folgen – auch wenn die neue Mission „Entschlossene Unterstützung“ trotz des martialischen Namens nur noch ein Schatten früheren Engagements ist, als ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister behauptete (man muss leider immer wieder daran erinnern), in dem unwirtlichen Bergland kurz vor dem Ende der Welt, stehe Deutschlands Sicherheit auf dem Spiel. Künftig werden unter 12.000 Soldaten aus fast aller Herren Länder 850 deutsche Uniformen tragen. Mehr als 5000 von fast 140.000 sind es einmal gewesen.

Ob der militärische Anonymus recht hat mit seinen bitteren Sätzen? Noch können wir es nicht ermessen. Auf der Habenseite des beispiellosen internationalen Bemühens steht eine unübersehbare Entwicklung in vielen Bereichen der afghanischen Gesellschaft, einschließlich des Schulbesuchs von Mädchen. Aber wie stabil ist dieser Zustand? Im benachbarten Pakistan sind gerade weit mehr als 100 Schulkinder von Taliban massakriert worden. Und in Afghanistan gab es schon lange nicht so viele Tote unter Zivilisten wie in diesem Jahr, da die internationale Schutztruppe vor allem mit dem Schutz des eigenen Abzugs beschäftigt ist.

Im deutschen Politsprech formuliert, liegt die Sicherheitsverantwortung von 2015 an in den Händen der afghanischen Armee. Über die wissen wir vor allem zweierlei: Sie zählt erheblich mehr Köpfe als die Bundeswehr. Nimmt man die polizeilichen Sicherheitskräfte hinzu, ist sie sogar mehr als doppelt so groß. Die Kosten der afghanischen Sicherheitsverantwortung werden, wie der Staatshaushalt überhaupt, hauptsächlich von den Vereinigten Staaten bestritten. Hoffentlich ist das Geld der amerikanischen Steuerzahler dort wenigstens besser angelegt als im Irak, wo das Militär nach dem Abzug der USA zerfiel. Seine fähigsten Kräfte haben die Grundlage für die Erfolge der islamistischen Isis-Milizen gelegt.

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Nicht zufällig haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen immer wieder deutlich gemacht, besser gesagt: bündnispolitisch verträglich angedeutet, dass sie es mit dem Abzug nicht so eilig haben. Doch ihr Einfluss auf die USA ist auch nicht größer als der von Gerhard Schröder, der vor 14 Jahren von einem zeitlich, örtlich und einsatzmäßig „begrenzten Mandat“ sprach.

Denn wie der Beginn des afghanischen Abenteuers ist auch sein angestrebtes Ende nicht zuletzt eine Funktion der amerikanischen Innenpolitik: Der damalige US-Präsident George W. Bush wollte exemplarisch und im Fernsehen nachverfolgbar Rache für die Anschläge des 11. September 2001 nehmen. Barack Obama will die „Jungs“ endlich nach Hause bringen, um sein wichtigstes Wahlkampfversprechen einzulösen.

Jenseits kurzfristigen Kalküls zeigen die „humanitären“ Interventionen der letzten Jahre vor allem: Militärische Gewalt löst Konflikte nicht – selbst wenn der Kampf gegen Kräfte wie den IS sie ausnahmsweise alternativlos erscheinen lässt. Auch außerhalb Afghanistans versuchen die USA und ihre Verbündeten deshalb, das Leben eigener Staatsbürger möglichst zu schonen. Im Irak werden sogar Kräfte ausgerüstet und ausgebildet, die noch vor nicht all zu langer Zeit unter Terrorismusverdacht standen.

Wird diese Strategie erfolgreicher sein als die Auslagerung militärischer Dienstleistungen an private Sicherheitsunternehmen wie die mehr berüchtigte als berühmte Firma „Blackwater“? Am Ende kommt es jedenfalls darauf an, dass sich in den Ländern, denen wir helfen oder in denen wir unsere Interessen wahren wollen, Zivilgesellschaften entwickeln, die verantwortungsbewusste Eliten hervorbringen. Das dauert.

Wie widersprüchlich ein solcher Prozess ist, erleben wir mitten im „alten Europa“. In den Staaten des ehemaligen Ostblocks hat in den letzten Jahrzehnten kein Krieg gewütet. Aber demokratisches Bewusstsein entsteht selbst in entwickelten Gesellschaften nicht über Nacht – zumal wenn die Menschen mit sozialen Unterschieden konfrontiert werden, die auszuhalten sie erst lernen müssen.

Die Angst sollte man einem Soldaten im Einsatz nicht nehmen wollen. Sie ist überlebenswichtig. Aber er braucht eine politische Perspektive, damit er seinen Einsatz sinnvoll findet. Seine Mitbürger ohne Uniform übrigens auch. Da hat die Bundesregierung einigen Nachholbedarf.