Leitartikel zur Wahl: Merkels Agenda

Angela Merkel bleibt Bundeskanzlerin. Das ist keine Überraschung. Alles andere aber, was an diesem denkwürdigen Wahlabend vom 22. September 2013 geschah, wird als historisch in die Geschichte eingehen. Und deshalb muss ausnahmsweise einmal nicht zuerst über die Sieger, sondern über den großen Verlierer des Abends gesprochen werden: über die FDP. Die Liberalen werden erstmals nicht mehr dem Deutschen Bundestag angehören. Mehr als sechs Jahrzehnte haben FDP-Politiker zum Teil an führender Stelle die Geschicke des Landes mitbestimmt. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist ohne liberale Politiker wie Theodor Heuss, Hans-Dietrich Genscher, Gerhart Baum, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger oder die große alte Dame Hildegard Hamm-Brücher, die fast mal Bundespräsidentin geworden wäre, nicht zu denken.

So gesehen, ist die Tatsache, dass die FDP dem Parlament nicht mehr angehören wird, dass sie auch aus fast allen Landtagen hinausgewählt wurde, eine echte Zäsur. Eine allerdings, an der die Liberalen in den vergangenen Jahren tatkräftig mitgearbeitet haben. Führungsstreit und eine Politik für Lobbygruppen haben dafür gesorgt, dass die Partei sich selbst ihres liberalen Kerns beraubt hat. Sie hat ihr Erbe mutwillig verspielt. Eine Partei aber, die nur noch sagen kann, dass sie regieren will, aber nicht, warum, ist richtigerweise nicht mehr wählbar. Die Bürger haben darauf aufmerksam reagiert. Die Tatsache, dass damit der Union ihr einziger angeblicher „Wunschpartner“ für Koalitionen verloren geht, hat dabei für die Wahlentscheidung keine Rolle gespielt. Die sogenannte Zweitstimmenkampagne hat nicht funktioniert.

Die FDP wurde als kleine Partei von den Wählern am heftigsten abgestraft. Aber auch die anderen Kleinen, die Grünen, die Linken, die erst jungen Piraten, haben aus ganz unterschiedlichen Gründen verloren. Die Grünen selbstverschuldet wegen falscher Wahlstrategie, die Linken wegen abnehmender Bedeutung, die Piraten weil sie nicht erklären können, was sie wollen.

Dazugewonnen haben die Großen, die Union und die SPD. Das ist eine Umkehr der politischen Verhältnisse. Noch vor wenigen Jahren wurde das Ende der Volksparteien ausgerufen. Die politische Landschaft schien zerklüftet, Mehrheiten zu bilden, für Union und SPD kaum noch möglich. Es war, wie wir jetzt wissen, kein Trend, es war eine Phase der Schwäche.

An diesem Wahlabend war kurze Zeit offen, ob die Union die absolute Mehrheit erreichen könnte. Das gab es nur einmal in der Bundesrepublik im Jahr 1957. Damals hieß der Kanzler Adenauer. Er hatte eine absolute Mehrheit und suchte sich trotzdem einen Koalitionspartner. Die Union ist heute also stark wie lange nicht. Aber auch die SPD hat zugelegt. Sie gewinnt wieder Wahlen. In Schleswig-Holstein oder in Hamburg – da sogar mit absoluter Mehrheit. Am gestrigen Abend legte sie auch in Hessen deutlich zu. Vom Ende der Volksparteien kann keine Rede mehr sein.

Oder doch? Droht die Zerklüftung jetzt am rechten Rand. Ausgerechnet dort, wo die Union bislang alles gut zusammengehalten hat? Die AfD ist gestern knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Aber erstmals wurde sichtbar, wie groß das Potenzial der bürgerlichen Rechten ist, das sich bei den Unionsparteien nicht mehr aufgehoben fühlt. Der Fast-Erfolg der AfD zeigt auch, warum die Kanzlerin – innenpolitisch gesehen – aus ihrer Sicht gut daran tat, in der Frage der Griechenland-Hilfen nicht voranzurennen.

Innenpolitisch war Pause

Gleich welches Bündnis Angela Merkel anführen wird, ob mit der SPD oder mit den Grünen, die Politik wird sich deutlich von der in den vergangenen vier Jahren unterscheiden müssen. Seit Beginn der internationalen Finanzkrise und der Eurokrise hat die deutsche Kanzlerin Außenpolitik betrieben. Merkel war in Europa die führende Stimme und hat in den Weltfinanzfragen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Da aber ohne sie nichts passiert, war im Land innenpolitisch Pause. Dabei warten wichtige Aufgaben: Reform der Pflege, Rente, Bildung. Noch einmal vier Jahre kann das nicht so bleiben. Die zukünftige Regierung wird daran gemessen werden, ob sie eine ausgeglichene Bilanz in innen- und außenpolitischen Fragen herstellt. Gemessen wird das am Engagement der Kanzlerin.

Und noch eines muss Angela Merkel Sorgen machen. Der Wahlerfolg der Union gilt ihr. Ganz allein. Nicht ihrer Partei. Sie ist inzwischen für die Union unersetzlich. Die Union ist Merkel und Merkel ist die Union. Da aber auch sie nicht unsterblich ist, wird sie sich ersetzbar machen müssen. Erst wenn sie das geschafft hat, wenn sie ihr Erbe geordnet hat, wird sie eine Große sein.