Bildungsbericht: Zwei Schicksalsfragen stellen sich dem deutschen Bildungssystem
Im Nationalen Bildungsbericht werden Lehrkräftemangel und misslingende Integration migrierter Kinder als die Herausforderungen unserer Zeit benannt. Gut so!

Zwei Schicksalsfragen gibt es für das deutsche Bildungssystem, das ist nach der Vorstellung des neunten Nationalen Bildungsberichts überdeutlich. Die erste Frage lautet: Wie schaffen wir es, dass Kinder mit Migrationshintergrund stärker von diesem System profitieren? Und die zweite: Warum agiert die Politik so fantasielos im Blick auf den Fachkräftemangel in Kita und Schule?
Dazu ein paar provozierende Zahlen, die das wissenschaftliche Team um Professor Kai Maaz für den Bildungsbericht zusammengestellt hat: 40 Prozent der Kinder unter sechs Jahren haben heute einen Migrationshintergrund. Das heißt, perspektivisch bestehen die Kita- und Grundschulklassen zu einem großen und immer größeren Teil aus Kindern mit nicht deutscher Familiensprache.
Zugleich ist klar: Bei Kindern mit Migrationshintergrund besteht das Risiko, dass sie in unserem Bildungssystem nicht reüssieren und lediglich niedrigere Abschlüsse erreichen als Kinder ohne. Vor allem dann, wenn ihre Eltern arm, arbeitslos und gering qualifiziert sind. Erwiesen ist auch, dass der Bildungsehrgeiz der migrierten Kinder oft hoch ist, es aber zu selten gelingt, diesen in die Tat umzusetzen.
Frühe Förderung und vor allem das frühe und gründliche Erlernen der deutschen Sprache sind wichtige Voraussetzungen für den späteren Bildungserfolg. Deshalb muss es Politikern zu denken geben, wenn 38 Prozent der Kinder von hoch qualifizierten Eltern schon vor dem dritten Lebensjahr eine Kita besuchen, aber nur 18 Prozent der Kinder von gering qualifizierten Eltern.
Im vergangenen Jahrzehnt gab es eine gewaltige Expansion im Personalbestand der Kitas, eine Zunahme nämlich um 75 Prozent. Doch ist die Zahl der Kita-Kinder fast proportional gewachsen, sodass der quantitative Ausbau zwar vorangeschritten ist, der qualitative Ausbau aber auf sich warten lässt. Ähnliches gilt für den Ausbau des Ganztags in der Grundschule, auf den sich ja viele politische Hoffnungen richten, wenn es um die Reduktion von Bildungsungerechtigkeit geht. Doch ohne eine deutliche Steigerung der Qualität werden diese Hoffnungen ins Leere laufen.
Erstaunlich: Dass es bisher fast keine Daten über Lehrer gibt
Für die Verbesserung der Qualität ist es unabdingbar, dass es genug pädagogische Fachkräfte gibt. Die Prognosen machen jedoch Angst: In den Kitas fehlen 72.500 Fachkräfte bis 2025, im Ganztag fehlen 65.600 Fachkräfte bis 2030 und an allgemeinbildenden Schulen 17.300.
Interessant ist, dass es inzwischen viele Daten über die Bildungsbiografien und Kompetenzen von Schülern gibt – aber nur sehr wenige über diejenigen von Lehrern. Da gibt es ein großes „Datendesiderat“, wie Kai Maaz es vornehm ausdrückt.
Warum brechen so viele Lehramtsstudenten ihr Studium ab? Warum steigen so viele Lehrer aus ihrem Beruf aus? Und warum drängen ursprünglich Fachfremde in ihn hinein? Auch im Nationalen Bildungsbericht, der diesmal das Schwerpunktthema „Personalgewinnung“ hat, gibt es noch keine Daten zu der Frage, ob die kürzlich geschaffenen Institutionen zur Ausbildung der Quereinsteiger sich bewährt haben.
Warum die KMK und die Länder bei der Steuerung versagt haben
Der Erziehungswissenschaftler Maaz ist ein Meister in der Kunst, die unangenehmen Wahrheiten so unaufdringlich zu formulieren, dass seine Auftraggeber in Politik und Verwaltung sich nicht auf die Füße getreten fühlen. Er sagt zum Beispiel Sätze wie diesen: „Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren viel Wissen für die politische Steuerung zusammengetragen, jetzt müsste sie wahrscheinlich mehr Wissen über die politische Steuerung zusammentragen.“
Sehr richtig. Denn gerade im Hinblick auf den Lehrkräftemangel ist bei der Steuerung durch die Kultusministerkonferenz und die Länder viel schiefgelaufen. Bis zum heutigen Tag gibt es keine gemeinsame Prognostik und keine gemeinsame Kapazitätsplanung. Die meisten Länder schaffen es nicht, genug Lehrkräfte für den eigenen Bedarf auszubilden. In den vergangenen 20 Jahren hat Deutschland bis zu 40 Prozent unter Bedarf ausgebildet. Diese Bilanz zieht der frühere Berliner Staatssekretär Mark Rackles in einer Studie.
Sein Lösungsvorschlag lautet: Die Bundesländer müssen sich endlich per Staatsvertrag verpflichten, mindestens vier bis fünf Prozent ihres Lehrkräftebestandes auszubilden. Allen Kultusministern, die gerade in Berlin tagen, sei die Lektüre des neuen Bildungsberichts sowie die Studie von Rackles ans Herz gelegt.