Die Unsichtbaren: Anthropologin erforscht das vietnamesische Berlin

Die Wissenschaftlerin Birgitt Röttger-Rössler spricht über das Leben von Vietnamesen in Berlin und die Konflikte zwischen den Generationen.

Pausenzeit bei den Dreharbeiten. Im Vlab haben sich junge Viet-Deutsche zusammengeschlossen, die in Filmen und Büchern von ihrer eigenen Geschichte zwischen den Welten erzählen.
Pausenzeit bei den Dreharbeiten. Im Vlab haben sich junge Viet-Deutsche zusammengeschlossen, die in Filmen und Büchern von ihrer eigenen Geschichte zwischen den Welten erzählen.Laura Tran

Berlin-Birgitt Röttger-Rössler ist Professorin für Anthropologie an der Freien Universität Berlin. Sie forscht seit Jahren über das Leben vietnamesischer Einwanderer in Berlin. Besonders interessiert sie sich für die Dynamik in den Familien und die Spannungen, die zwischen den eingewanderten Eltern und den in Deutschland geborenen Kindern entstehen. Wegen Corona treffen wir uns nicht persönlich, sondern sprechen am Telefon. Ihre dunkle Erzählstimme zieht mich sofort in den Bann.

Frau Röttger-Rössler, wie sind Sie dazu gekommen, sich mit der vietnamesischen Community in Berlin zu beschäftigen?

Als Anthropologin habe ich mich früh auf Südostasien spezialisiert und Feldforschung in Indonesien betrieben. Als ich im Jahr 2008 eine Professur in Berlin bekam, fing ich zum ersten Mal an, vor der Haustür zu forschen und fand es faszinierend, wie sehr die Schicksale der vietnamesischen Einwanderer und Einwanderinnen mit der deutsch-deutschen Geschichte verflochten sind.

Wie viele Menschen vietnamesischer Herkunft leben in Berlin?

Rund 30.000 Menschen, die in drei großen Einwanderungswellen nach Berlin kamen. Die erste Gruppe sind die „Boatpeople“, die nach dem Ende des Vietnamkrieges 1975 als politische Flüchtlinge aus Südvietnam kamen. Viele waren gut ausgebildet und flohen vor dem kommunistischen Regime. Ungefähr 1,5 Millionen haben das Land verlassen, aber nur knapp 800.000 haben – Schätzungen zufolge - die Flucht über das Südchinesische Meer überstanden. Die westliche Welt beschloss, im Rahmen der UN-Flüchtlingskonvention zu helfen. Auch Deutschland hat sich bereit erklärt, ein Kontingent von 38.000 Flüchtlingen aufzunehmen. Die „Cap Anamur“ – das deutsche Rettungsschiff – rettete viele Familien aus dem Meer, und im Westen Berlins wurden sie im Grunde gut aufgenommen.

Die zweite Gruppe waren die Vertragsarbeiter in der DDR?

Ja, von den insgesamt 60.000 Nordvietnamesen kam die meisten – nämlich rund 51.000 – kurz vor dem Mauerfall in die DDR, um im sozialistischen Bruderland zu arbeiten. In Vietnam waren sie vor allem in Landwirtschaft und im Industrie-Bereich tätig, nur eine Minderheit stammte aus dem akademischen Milieu. In der Regel kamen sie allein, lebten in speziellen Wohnheimen und hatten auch nicht das Recht, ihre Familien nachzuholen oder Familien zu gründen. Schwangere Frauen wurden abgeschoben oder zu einer Abtreibung gedrängt. Eine Integration war nicht erwünscht, und die Vertragsarbeitenden hatten auch nur sehr begrenzte Möglichkeiten, die deutsche Sprache zu lernen.

Was passierte nach der Wende? Da wurden die Vertragsarbeiter erst einmal vergessen, oder?

Ja, für eine gewisse Zeit gerieten sie in ein rechtliches Niemandsland. Anfang der 1990er-Jahre dann wurden sie massenhaft entlassen. Die DDR-Betriebe erhielten die Befugnis, sie mit einer Frist von drei Monaten bis zur Abreise zu kündigen. Rechtlich stand ihnen zwar eine Abfindung von 3000 DM sowie eine Lohnfortzahlung für die Übergangszeit zu. Doch die meisten nahmen das nicht wahr, weil sie von den Betrieben nicht über ihre Rechte aufgeklärt wurden. Bis Ende 1991 kehrten 45.000 Vertragsarbeiter nach Vietnam zurück, 25.000 versuchten, sich im wiedervereinten Deutschland eine neue Existenz aufzubauen.

Ist dieser Versuch geglückt?

Etliche haben sich selbstständig gemacht, kleine Restaurants und Imbissbuden eröffnet, Blumenläden und Textilgeschäfte. Durch Disziplin und harte Arbeit – eine Siebentage-Woche mit Zwölf-bis-vierzehn-Stunden-Tagen – haben sie hier überlebt. Doch blieb ihnen wenig Zeit für die Familie, Ehepartner und Kinder, die sie nach langen Jahren der Trennung aus der alten Heimat nach Deutschland holten.

Wie würden Sie die dritte Einwanderergruppe beschreiben?

Man spricht von der sogenannten neuen Migration. Auffällig sind die Mittelschichtsfrauen aus Zentralvietnam, die nach Deutschland kommen, um ihren Kindern ein besseres Leben zu eröffnen. Sie reisen als Schwangere ein, suchen dann häufig mithilfe einer Schatten-Agentur einen Scheinvater, der nach der Geburt des Kindes die Vaterschaft anerkennt. Die Scheinväter stammen nicht selten aus dem Obdachlosenmilieu, deshalb können sie nicht zu Unterhaltszahlungen herangezogen werden und sind froh, wenn sie  etwa 6000 Euro für die Vaterschaftsanerkennung kassieren. Die in Berlin geborenen Kinder sind dann automatisch deutsche Staatsbürger, die Mütter bekommen für 18 Jahre ein Aufenthaltsrecht.

Wer sind die eigentlichen Väter?

Die Väter sind oft die Ehemänner in Vietnam, von denen sich die Frauen dann formal scheiden lassen – in der Hoffnung, die früheren Partner zu einem späteren Zeitpunkt nachholen zu können.

Ist das, was die Frauen tun, denn illegal?

In der letzten Zeit wird es zwar kriminalisiert, doch nutzen die Frauen nur eine rechtliche Grauzone. In Teilen der vietnamesischen Community wird ihr Verhalten jedoch als unmoralisch verurteilt. Zugleich sind diese Frauen nicht zu beneiden, weil sie viele Jahre alleinerziehend sind, in irgendwelchen Wurstfabriken arbeiten und zugleich den Druck haben, für sich und ihre Familie etwas Größeres aufzubauen. Scheitern ist keine Option – denn das wäre ein Gesichtsverlust für die ganze Großfamilie.

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Miriam Klingl
Zur Person
Birgitt Röttger-Rössler ist Professorin für Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin. Sie ist Initiatorin und Sprecherin des an der FU etablierten Sonderforschungsbereiches „Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten“. Sie studierte Ethnologie, Anthropologie, Romanistik und Malaiologie. Ihr regionaler Schwerpunkt liegt auf südostasiatischen Gesellschaften, insbesondere auf Indonesien und Vietnam. Gegenwärtig forscht sie zu Prozessen der „Gefühlsbildung im vietnamesischen Berlin“.

Die Migrationsforschung unterscheidet zwischen der ersten, einskommafünften und zweiten Generation. Können Sie diese Unterschiede erklären?

Die erste Generation ist die Elterngeneration, die aus Vietnam nach Deutschland eingewandert ist. Die zweite Generation sind Kinder, die schon in Deutschland geboren werden. Und die einskommafünfte Generation meint Kinder, die in Vietnam noch einen prägenden Teil ihrer Kindheit verbracht haben, bevor sie nach Deutschland kamen. Diese Generation kennt Vietnam und verortet sich da auch teilweise, während ich im Gespräch mit Jugendlichen der zweiten Generation oft gespürt habe, dass es eine Art doppelter Nichtzugehörigkeit gibt. In der Schule werden sie ständig mit ihrer Andersheit konfrontiert, durch die Schlitzaugen- und Ching-Chang-Chong-Witze ihrer Mitschüler. Weswegen sie mit aller Kraft versuchen, deutsch zu sein und sich allem Vietnamesischen verweigern, dem Essen, der Sprache. Diese wird oft als minderwertig empfunden und Bilingualität nicht als Wert gesehen.

Jedenfalls dann nicht, wenn die zweite Sprache keine auf dem Weltmarkt verwertbare Sprache wie Englisch ist.

Ja, und dann entsteht eine Art wachsender Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. Weil die Eltern zu wenig Deutsch sprechen und die Kinder zu wenig Vietnamesisch – und es im Alltag keine „Dialogkultur“ gibt. Konflikte werden eher beschwiegen, Gefühle und schmerzhafte Erfahrungen nur selten artikuliert. Wenn die Kinder dann in den Schulferien nach Vietnam reisen, werden sie damit konfrontiert, dass sie die Sprache und Etikette nur sehr unzureichend beherrschen. Dort werden sie dann ausgrenzend als „Viet Kieu“, also als Auslandsvietnamesen tituliert.

Spielt der Bildungserfolg der Kinder für die Eltern eine große Rolle?

Ja, in der vietnamesischen Gesellschaft hat Bildung einen hohen Stellenwert, gilt als Garant für den sozialen Aufstieg. Von den Kindern wird erwartet, dass sie nur die besten Noten nach Hause bringen. Sie begreifen das als Lohn für die Mühen, die sie als erste und oft unterprivilegierte Einwanderergeneration in Deutschland auf sich nehmen. Bringen die Kinder nur die Note zwei oder drei nach Hause, kann es sein, dass sie hart bestraft werden. Auf den Kindern lastet also ein ungeheurer Druck. Doch mir scheint, dass es erstaunlich vielen gelingt, diesen Druck in Erfolg zu verwandeln, während eine Minderheit enorm darunter leidet. Zugleich hat mich immer tief beeindruckt, dass es in den meisten Familien einen starken Zusammenhalt gibt – trotz der vielen harten Arbeit – und die Kinder sich von ihren Eltern im Grunde geliebt fühlen und deshalb nicht verwahrlosen.

Sind die Erfolgreichen dann oft sehr angepasst? Oder schaffen sie es, ihren eigenen Weg zu gehen?

Mich freut, dass immer mehr junge Viet-Deutsche nicht nur gute Studienabschlüsse in der Tasche haben, sondern sich auch politisch und künstlerisch zu Wort melden – Kinder von Eltern, die in Deutschland vor allem eins wollten: nicht auffallen. Diese junge Generation stellt das Motiv der „Unsichtbarkeit“ infrage und hat den Mut, sich auch öffentlich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.

(Das Gespräch führte Eva Corino.)