Fieberhaftes Carpe Diem: Wie Jugendliche nach Corona aufholen
Kann es sein, dass schulisch in den letzten Monaten nicht so viel passiert ist? Macht nichts, denn als Fünfzehnjähriger braucht man den Rausch des Sommers.

Schon immer war es so, dass das Sommerhalbjahr viel schneller verging als das Winterhalbjahr. In diesem Jahr hat sich die gefühlte Zeit nach Ostern noch einmal beschleunigt. Aus Sicht unseres 15-jährigen Sohnes bestand sie vor allem aus Maifeiertagen, Himmelfahrt, Pfingsten, Wandertagen, Klassenfahrten und Unterrichtsausfällen wegen des mündlichen Abiturs, dicht gefolgt von den Abschiedsfesten und den Filmvorführungen in den Tagen vor der Zeugnisübergabe.
Man könnte meinen, dass ich diesen Satz nur vorausgeschickt habe, um mich darüber zu echauffieren, dass unsere Kinder in den vergangenen Monaten nicht genug seriösen Unterricht erhalten haben. Aber das Gegenteil ist der Fall: Nie habe ich unserem Sohn diesen Rausch des Sommers so sehr gewünscht und und so sehr gegönnt wie in diesem Jahr.
Und es schien mir auch so, als wäre es eine Art existenzielle Aufholjagd nach den beiden harten Corona-Jahren und ein fieberhaftes „Carpe diem!“ vor dem nächsten Corona-Herbst. Es verging kein Tag, an dem unser Sohn nicht aufbrach, um mit Freunden im See zu schwimmen, mit Freunden abends durch die Stadt zu laufen, mit Freunden im nächtlichen Park zu feiern und sich bei allen diesen Ausflügen tastend, forschend, streitend über den Sinn und Unsinn des Lebens zu unterhalten.
Und das ist vielleicht die tiefe Lektion, die er in in diesen vergangenen beiden Jahren gelernt hat: dass die menschlichen Kontakte das Kostbarste sind und man jede Gelegenheit verdammt noch mal ergreifen muss, miteinander zu lachen und die Welt mit allen Sinnen zu erleben, sich an sie zu verlieren und sie in allen Einzelheiten in sein Gedächtnis aufzunehmen.
Und auch das Tablet hat seine Funktion verändert: War es in der heftigen Corona-Krisenzeit vor allem ein Instrument, um sich eine Ersatzwelt ins Wohnzimmer zu holen und die Ereignislosigkeit des eigenen Lebens zu übertönen, so ist es nun vor allem zu einem Hilfsmittel geworden, um sich zu verabreden, Uhrzeiten und Treffpunkte zu verabreden.
In der Corona-Zeit hieß es viel verzichten – auf die Fahrt nach England zum Beispiel und zwei Praktika. Und vielleicht ist die zweite Lektion aus Corona, dass das außerschulische und soziale Lernen im Moment viel wichtiger ist als das schulische. Es wurde oft beschrieben, dass die Schüler in ihrem Sozialverhalten „wie zurückgeblieben“ scheinen, dass sich Fünftklässler wie Drittklässler verhalten und Siebtklässler wie Fünftklässler. Dass sie nicht mehr so gut zuhören können, selten ausreden lassen, nicht mehr wissen, dass man mit Erwachsenen und Kindern in einem unterschiedlichen Tonfall spricht. Auch hier gab und gibt in diesem Sommer so manches aufzuholen.
Viele Lehrer spürten das intuitiv, haben die Zügel etwas lockerer gelassen und ein Auge zugedrückt, wenn die Schüler sich mit minimalem Aufwand durch die Klassenarbeiten und MSA-Prüfungen mogelten, um Zeit zu gewinnen für den Rausch des Sommers. Und sie spürten auch, dass viele Kinder und Jugendliche ein gefährliches „Defizit“ an Lebensfreude hatten, dass sie erst wieder ausgleichen müssen. Es gibt einen Satz von Georg Büchner, der mir immer sehr imponiert hat: „Wer am meisten genießt, betet am besten.“ Vielleicht kann man ihn heute so variieren: „Wer sich des Lebens freut, der hat auch wieder Lust zu lernen.“
