Geniale Quereinsteiger oder: Die wundersame Verwandlung der Ernst-Reuter-Schule
Vor sechs Jahren wurde die Schule noch mit der Rütli-Schule verglichen, heute ist sie eine der dynamischsten Schulen der Stadt. Ein Porträt.

Lange Zeit nannte man die Ernst-Reuter-Schule „die Schule an der Mauer“. Aus manchen Klassenzimmern sieht man auf die Gedenkstätte Bernauer Straße und die verrosteten Eisenstangen, die den früheren Grenzverlauf markieren.
„Das ist jetzt 43 Jahre her – und doch ist unsere Schule heute immer noch die Schule an der Mauer“, sagt die Spanischlehrerin Luisa Castrillón. Für sie ist die Bernauer Straße wie eine unsichtbare, aber scharf gezogene Grenzlinie zwischen dem gentrifizierten Mitte und dem pauperisierten Wedding.
Auf der einen Seite sieht man schicke Cafés und die Berliner Start-up-Factory mit ihrer großen Dachterrasse, auf der anderen Seite Discounter, Dönerbuden und eine Schule, über die 2016 im Tagesspiegel zu lesen war, hier lernten „Rütlis Erben“. Keiner der Start-up-Gründer, die gerade auf der Dachterrasse sitzen, würde wahrscheinlich auf die Idee kommen, seine Kinder in der Ernst-Reuter-Schule anzumelden, obwohl sie nah ist. Und um diese unsichtbare Grenze geht es in diesem Text – und um die Menschen, die seit einigen Jahren mit ungeheurer Energie daran arbeiten, sie verschwinden zu lassen.
Wenige Schulen in Berlin haben in den vergangenen Jahren so konsequent ihre Entwicklung vorangetrieben wie die Ernst-Reuter-Schule. Die Menschen, die dort arbeiten, haben das Profil der Schule geschärft, fast ein ganzer Tag pro Woche wird dort der innovativen Projektarbeit gewidmet. Und vor allem hat sich diese Schule in eine attraktive Ausbildungsschule für Referendare und Quereinsteiger verwandelt. Auch die Leistungen der Schüler haben sich spürbar verbessert, mehr von ihnen verlassen die Schule mit guten Abschlüssen, streben zum Abitur, fallen durch besondere Begabungen auf.
Die Schule an der Mauer
Es ist ein Dienstagmorgen, und ich sitze mit Luisa Castrillón, die auch für die Öffentlichkeitsarbeit der Schule zuständig ist, und Marc Eggert, den stellvertretenden Schulleiter, in einem Café auf der anderen Seite, dort, wo man Latte macchiato und Banana Bread serviert. Keiner ihrer Schüler würde hier je einen Fuß hineinsetzen, da sind sich die beiden ganz sicher. 90 Prozent haben Migrationshintergrund, 80 Prozent kommen aus armen Familien. „Aber davon will ich jetzt gar nicht reden. Sonst produziere ich nur einen dieser typischen Brennpunktschulberichte – Armut, Gewalt und Tristesse. Und dieses Narrativ wird unseren Schülern nicht gerecht“, sagt Eggert.
Beim 69. Europäischen Wettbewerb haben die Schüler der Ernst-Reuter-Schule einen Bundespreis und mehrere Landespreise gewonnen. Glücklich und fast ungläubig nahmen sie ihre Urkunden entgegen. So erzählt es Castrillón. Nicht wenige haben kaum Selbstbewusstsein und spüren die Stigmatisierung, die immer noch vom Namen ihrer Schule ausgeht.
Als sie vor Monaten aufgefordert wurden, sich am Wettbewerb zum Thema „Nachhaltigkeit“ zu beteiligen, fragten sie: „Warum sollen wir denn teilnehmen, wir sind doch Ernst-Reuter ...?“ Die Antwort des stellvertretenden Schulleiters: „Natürlich, um zu gewinnen!“
Geschichten der Ungleichzeitigkeit
Nach ihren Schülern gefragt, fangen Eggert und Castrillón an zu schwärmen. Von der stillen 16-jährigen Arjin, Tochter eines kurdischen Bauarbeiters, die mit ihrer dystopischen Erzählung „Ausgeschieden“ einen Bundespreis gewonnen hat. Und die sich in ihrer MSA-Präsentation mit der Frage beschäftigte: „Sollten NGOs in Afghanistan für die Befreiung der Frauen kämpfen, auch wenn diese dann mit dem Tod bedroht werden?“

Auch vom 19 Jahre alten Servetcan erfahre ich, der seine alleinerziehende Mutter überredet hat, von Istanbul nach Berlin zu ziehen. Als er am 9. November in der Gedenkstätte Berliner Mauer eine Rede hielt über seine Vorstellungen von einer solidarischen Gesellschaft, lud ihn die ergriffene Saskia Esken ein, in ihrem Bundestagsbüro ein Praktikum zu machen. Dieses Praktikum hat ihn in seinem brennenden Wunsch bestärkt, später einmal Politikwissenschaft zu studieren.
Für die Medien sei es wahrscheinlich nicht leicht, Geschichten der Ungleichzeitigkeit zu erzählen, sagt Eggert. „Denn es gibt die Erfolge von Arjin und Servetcan, aber nach wie vor auch Geschichten von aggressivem Verhalten und Traumatisierung.“
Zum Beispiel überlegt eine Schülerin, die Schule zu verlassen, weil sie von ihrem Tischnachbarn mit einem spitzen Bleistift verletzt wurde. Ein anderer Schüler, der immer wieder durch aggressives Verhalten auffiel, erzählte irgendwann, dass er mit ansehen musste, wie sein Bruder in Syrien auf eine Mine trat. „Wäre ich einen Meter weiter rechts gegangen, dann wäre ich jetzt tot und er wäre hier in Deutschland.“
Wichtig sei, diese Jugendlichen zu verstehen, aber nicht in die Falle zu tappen, vor lauter Mitleid nichts mehr von ihnen zu verlangen, betont Castrillón. „Sie ernst zu nehmen, heißt gerade, sie zu Höchstleistungen anzuspornen.“
Eine attraktive Ausbildungsschule
An dem Tag, als ich Marc Eggert in seinem Büro besuche, hat er eindeutig die Aura eines Regisseurs. Mit diesem durchdringenden Blick und einem schwarzen Hemd, das eine Nuance weiter offen steht, als man es bei einem stellvertretenden Schulleiter erwartet. Mit seinen Brecht-Zitaten: „Die einen sind im Licht und die anderen sieht man nicht. Und unsere Schüler sieht man bisher nur, wenn sie Mist bauen. Das muss anders werden!“
Man spürt schnell, dass Eggert eines der Kraftzentren ist in dieser großen Brennpunktschule, in der täglich 1000 Schüler ein und aus gehen. Er sitzt in einem schwarzen Drehstuhl, mit federnder Lehne, dreht sich nach links, um auf seinen beiden Bildschirmen schnell etwas nachzuschauen, dreht sich nach rechts, um im Stehen die Schüler und Lehrer zu begrüßen, die in sein Büro drängen, sei es, um sich eine Unterschrift abzuholen oder um mit ihm über Bildungspolitik zu diskutieren.
„Es ist ein offenes Geheimnis, dass Brennpunktschulen sich extrem schwer tun, gutes Personal zu finden, und dass hier der Anteil der Quereinsteiger besonders hoch ist,“ sagt Eggert. „Verfolgt man die Diskussion in der Presse, sieht man, dass die Quereinsteiger auf geheimnisvolle Weise die Eigenschaften der Situation erben, die sie hervorgebracht hat: Aus dem Lehrermangel wird der Mangellehrer.“
Quereinsteiger jedoch seien ein Gewinn für die Schulen, weil sie frischen Wind bringen und einen großen Reichtum an Lebens- und Berufserfahrungen, so Eggert. Studien zeigten, dass Schüler, die von gut eingearbeiteten Quereinsteigern unterrichtet werden, keine schlechteren Leistungen bringen als diejenigen, die von und mit Laufbahnbewerbern lernen. Aber das Problem seien nun einmal die ersten zwei Jahre, weil da der Mangel an pädagogischem „Handwerk“ besonders zu Buche schlägt.
Das gilt übrigens auch für die an der Universität ausgebildeten Referendare, die zwar schon mehr über Didaktik nachgedacht haben, aber auf die Herausforderungen des Alltags auch nicht wirklich vorbereitet sind. Deshalb hat das Team um Marc Eggert sehr systematisch angefangen, die Not zu einer Tugend zu machen. Nämlich, indem man sehr viel Zeit in die Beratung und Betreuung von Auszubildenden investiert hat.
Die beiden Schulleiter – der überaus humorvolle Andreas Huth und sein Stellvertreter Marc Eggert – haben fünf Stunden pro Woche ausschließlich für diese Aufgabe reserviert. Man achtet darauf, dass empathische Lehrerkollegen als Mentoren eingesetzt werden und ihre Aufgabe ernst nehmen. Sie gehen mit den „Neuen“ ihre Unterrichtsstunden durch, besprechen, was schon gut war und was besser werden könnte. In ihrem eigenen Lehrerzimmer können Referendare und Quereinsteiger zwanglos und ohne Angst, dumme Fragen zu stellen, ins Gespräch kommen.
Beziehungsarbeit – besonders wichtig an Brennpunktschulen
Regelmäßig gibt es Workshops, die in Fragen der Didaktik einführen und in die besondere Beziehungsarbeit, die man an einer Brennpunktschule braucht. Auf diese Weise entsteht eine gemeinsame Sprache und eine Kultur der gegenseitigen Unterstützung. „Man tauscht Materialien aus, Tipps und nimmt sich auch mal in den Arm, wenn man mit einer Unterrichtssituation überfordert war“, sagt Eggert. „Ich weiß noch, wie ich am Anfang in eine Klasse kam und mit ansehen musste, wie ein Schüler mein Arbeitsblatt aufgegessen hat und drei Mädchen sich geschminkt haben, als wäre ich gar nicht im Raum.“

Wäre das Wort nicht so verschlissen, könnte man von Willkommenskultur sprechen. „Oder von Wertschätzung für alle, die sich hier mit ihrer Kraft und ihren Ideen einbringen.“ Das sollte selbstverständlich sein, ist es aber leider nicht. Viele Referendare und Quereinsteiger berichten, dass sie in ihren Schulen ab Tag eins total alleingelassen werden. Kein Wunder, dass die Abbrecherzahlen hoch sind.
„Als ich 2018 als Referendarin dieser Schule zugewiesen wurde, habe ich fast geweint,“ sagt Luisa Castrillón. „Weil ich dachte: Ernst-Reuter, oh Mann! Doch inzwischen wollen die Absolventen unbedingt an unsere Schule, weil sich herumgesprochen hat, dass sie hier gut auf ihren Beruf vorbereitet werden.“ Von den 130 Lehrern im Kollegium gibt es etwa 60, die in den letzten Jahren als Auszubildende an die Schule gekommen und geblieben sind.
Vom Regisseur zum Schulleiter an der Ernst-Reuter-Schule
Eggert selbst hat vor fünf Jahren als Quereinsteiger an der Ernst-Reuter-Schule angefangen. Er hat sein Zweites Staatsexamen mit der Note 1,1 gemacht, als Lehrer und Schulleiter seine neue Berufung gefunden. In dieser Tätigkeit kann er viele Fähigkeiten einsetzen, die er in den letzten 20 Jahren entwickelt hat.
Seine erste Berufung war das Theater. Schon als Fünfzehnjähriger hat er am Gymnasium seine ersten Stücke inszeniert und das schriftliche Abitur in Deutsch fast verschlafen, weil er in der Nacht zuvor eine Premiere gefeiert hatte. Nach der Schule sammelte er bei den Honoratioren seiner Heimatstadt Siegen 30 Millionen ein, um ein neues Theater bauen zu können. Nach einer rebellischen Inszenierung von Schillers „Räubern“ holte der italienische Theatermacher Roberto Ciulli ihn ans Mülheimer Theater an der Ruhr. Dort spielte Eggert ein paar Jahre im Ensemble, bevor er es irgendwann satthatte, „den ganzen Tag in dunklen Räumen zu verbringen“.
Ciulli riet ihm, Philosophie zu studieren, „damit er später ein Theater machen kann, das gesellschaftlich relevant ist“. In Berlin studierte Eggert also Philosophie und Politologie, studierte lange, wollte sich wirklich orientieren in der Welt der Begriffe. Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, an der Uni zu bleiben. „Aber ich war nicht gut genug, um Professor zu werden. Und so eine trostlose Mittelbauexistenz wollte ich nicht!“
Neben und nach dem Studium probierte er sich aus und „führte dieses Kreuz-und-quer-Leben, das zu leben im Berlin der Nullerjahre so verführerisch war“. Er gründete mit Freunden eine Galerie in Prenzlauer Berg, drehte Filme, schrieb Drehbücher und Krimis. „Ich bin meiner Neugierde gefolgt und habe das sehr genossen. Aber mit 35 Jahren hatte ich eine Krise, konnte das Wort Projekt nicht mehr hören. Und außerdem brauchte ich Geld.“
Er fing dann an, für einen Träger im Bereich der Berufsorientierung zu arbeiten. So kam er eines Tages an die Ernst-Reuter-Schule, um mit Jugendlichen Theater zu spielen und kurze Videos zu drehen. Als die damalige Schulleiterin die Videos sah, schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie sagte zu Eggert: „Sie müssen unbedingt an unserer Schule bleiben.“

So wurde er Vertretungslehrer für Philosophie und Politische Wissenschaft, später Quereinsteiger. Sein Seminarfachleiter hat ihn mit den Worten verabschiedet: „An der Ernst-Reuter-Schule entscheidet sich, ob die Berliner Schule noch zu retten ist“, erzählt Eggert. „Und ich dachte: Auftrag angenommen!“
Quereinsteiger-Power auf allen Ebenen
Im September 2021 war die Bildungspolitikerin Maja Lasić im Gespräch, Berlins neue Schulsenatorin zu werden. Doch als die Bürgermeisterin ihr Astrid-Sabine Busse vorzog, entschied sich Lasić mit Anfang 40, als Quereinsteigerin an die Ernst-Reuter-Schule zu gehen.
Seit Januar unterrichtet die promovierte Biochemikerin dort und sucht im Austausch mit dem Kollegium nach neuen bildungspolitischen Lösungen. Schon im letzten Wahlprogramm der SPD tauchte die Ernst-Reuter-Schule auf als heimliche Blaupause für die „Ausbildungsschulen“, die Lasić forderte.
Sie, die als 14-jähriges Mädchen vor dem Bosnienkrieg nach Deutschland floh, fühlt sich gut aufgehoben an dieser Schule. „Weil die Menschen wie mich hier wollen. Und weil es hier keine rassistische Diskriminierung gibt, sondern einen sehr freundlichen Blick auf die Schüler.“
Drei Viertel der Lehrer, die Naturwissenschaften unterrichten, haben promoviert. So wie Martin Panusch, der an der Universität Flensburg als wissenschaftlicher Mitarbeiter angehenden Physiklehrern beigebracht hat, wie sie ihren Schülern möglichst spannende Experimente zeigen. Später hat er im Museum Phänomenta einen eigenen Makerspace aufgebaut und dort Kinder in die Geheimnisse der Wissenschaft und Technik eingeführt.
Als sein Vertrag dort auslief, nahm er an einem der berüchtigten Castings teil, in denen potenzielle Quereinsteiger in einer Aula auf der Bühne stehen und vorsprechen, was sie bisher im Leben so gemacht haben und was sie motiviert, in die Schule zu gehen. Unten, im Dunkel des Zuschauerraums, sitzen dann die Schulleiter, hören sich das an und können der Schulaufsicht hinterher sagen: „Den oder die will ich haben.“
Der Physiklehrer wurde bei einem Casting entdeckt
„Bei einem Casting im Jahr 2020 hat Herr Eggert mich gekeilt“, sagt Panusch. Vor wenigen Wochen hat Panusch sein Zweites Staatsexamen abgelegt und ist „freudig aufgeregt“, im Alter von 52 Jahren seine erste Klassenleitung zu übernehmen. Das Verrückte ist, dass Panusch ursprünglich auf Lehramt studiert hatte, aber immer abgeschreckt war vom wenig dynamischen Umfeld der Schulen. „Bei meinen Praktika habe ich Kollegen kennengelernt, die bei jeder anstehenden Innovation sagten: Ich hab ja nur noch 15 Jahre bis zur Rente. Das sollen mal die jüngeren Kollegen machen.“

Mathelehrer sind in Berlin so wertvoll wie Goldstaub. Also horchte die Schulleitung auf, als eine Kollegin von Ian Mende* erzählte. Mende hatte an der Universität Nairobi Ökonomie gelehrt, dort seine „blaue und blondäugige Frau“ kennengelernt und in Berlin seinen Master in Internationalem Management gemacht. Nach ein paar Jahren als Projektmanager bei Eurowings fand er es nicht mehr sinnstiftend, den ganzen Tag über Profitmaximierung nachzudenken. Seine Tochter wurde geboren, er wollte Zeit haben für sie. „Und meine Frau sagte, in Kenia habe sie immer den Eindruck gehabt, dass ich Lehrer war mit dem ganzen Herz.“
An der Ernst-Reuter-Schule unterrichtet Mende nicht nur Mathematik, sondern auch Wirtschaft und Englisch. Von den Schülern wird er auf den Fluren der Schule wie eine Art Superheld behandelt, freudig begrüßt und gefragt: „Herr Mende, wollen Sie, dass wir Sie in die Mensa tragen?“ Huldvoll lächelt er zurück.
„Ich weiß, was es heißt, sich in Deutschland integrieren zu müssen, mit wenig auszukommen, sich durchzubeißen. Darum schaffe ich es, für die Schüler ein gutes Vorbild zu sein.“
Die Ernst-Reuter-Schule und die Vielfalt moderner Lebensläufe
Manche werden diese Biografien als Geschichten des Scheiterns deuten und sagen, diese Menschen seien nur deshalb Lehrer geworden, weil es ihnen ja nicht vergönnt war, als Regisseur, Politikerin, Physikprofessor in der ersten Liga zu spielen.
Aber man kann es auch so sehen: dass an der Ernst-Reuter-Schule viele talentierte und risikofreudige Persönlichkeiten zusammenkommen, die in ihrem aktuellen Beruf aus einem reichen Erfahrungsfundus schöpfen können. Wird der Lehrerberuf der letzte Beruf sein in ihrem Leben? „Wer weiß“, sagt Marc Eggert. „Im Moment fühle ich mich hier jedenfalls genau richtig!“
Im Gespräch mit ihm und den anderen Lehrern in seinem Kollegium lernt man, anders über Quereinsteiger nachzudenken. Weil sie in der modernen Gesellschaft zur Norm werden und der Musil’sche Möglichkeitsmensch von der absoluten Ausnahme zum Massenphänomen wird.
Angesichts einer rasant steigenden Lebenserwartung erscheint es vielen jungen Leuten absurd, mit 18 Jahren schon wissen zu sollen, welchen Beruf sie für den Rest ihres Lebens ausüben. Warum sich nicht ausprobieren, verschiedene Berufe erlernen, ergreifen und wieder verlassen, wenn das Gefühl von Sinnhaftigkeit erlischt?
Der Lehrerberuf: Von der Lebens- zur Lebensabschnittsaufgabe
Deshalb wird auch der Lehrerberuf zunehmend von einer Lebens- zur Lebensabschnittsaufgabe. Das heißt nicht, dass es nicht auch etwas sehr Schönes ist, wenn man schon früh Lehrer wird und diesen Beruf sein ganzes Leben lang mit Begeisterung ausübt. Aber viele Schulen in Deutschland haben 30 Jahre Organisationsentwicklung verpasst und der Arbeitsplatz, den sie anbieten, passt nicht mehr zu den Vorstellungen junger Leute.
Die wollen nach der Schule nämlich erst einmal hinaus in die Welt, etwas erleben, und das Lehramtsstudium ist dann für sie wie eine Jobgarantie, auf die sie vielleicht später mal zurückgreifen. So war es jedenfalls bei Luisa Castrillón, die ganz regulär an der Universität studiert hat, aber oft „ausgebüxt“ ist. Erst nachdem sie Streetworkerin in Johannesburg und Kulturreferentin am Goethe-Institut in Addis Abeba war, hatte sie langsam Lust, ihre Examina zu machen.
Zugleich spürt man in diesen Biografien auch, wie das Sozialprestige in unserer Gesellschaft verteilt ist: In Kunst und Kultur, Politik und Wissenschaft, da lockt die Anerkennung. Da, wo es um Selbstverwirklichung und den Kult des Individuums geht.

Und inzwischen ist so viel Wohlstand in unserer Gesellschaft, dass Scharen von jungen Erwachsenen erst mal aufs volle Risiko gehen in Branchen, wo nur die Lucky Few es schaffen, auf Dauer erfolgreich zu sein, gut zu verdienen und feste Stellen zu bekommen. Für die anderen bleibt ein harter Konkurrenzkampf, Selbstausbeutung, Prekariat.
Unterrichten: Von der Selbstverwirklichung zur Wirksamkeit
Das geht eine Weile, aber irgendwann nicht mehr. Zum Beispiel, wenn das erste Kind auf die Welt kommt, das Zeit braucht und eine sichere Perspektive. Da ist es ein angenehmer Nebeneffekt des Lehrerberufs, dass man unbefristete Stellen hat, Ferien und einen strukturierten Alltag. Und diejenigen, die etwa in der Kunstwelt lange als verbissene Einzelkämpfer unterwegs waren, genießen, dass sie in der Schule in einem größeren sozialen Zusammenhang arbeiten können, vielleicht sogar in einem der seltenen Kollegien mit „Willkommenskultur“.
Zwischen 30 und 40 entdecken viele die schönen Seiten des Lehrerberufs und spüren, was für eine dankbare Aufgabe es sein kann, die nächste Generation auf die Zukunft vorzubereiten. Das gilt für die Quereinsteiger, aber auch für die ausgebüxten Laufbahnbewerber. Der Begriff „Selbstverwirklichung“ verliert seinen verheißungsvollen Klang, und auf einmal ruft die Aufgabe, im Leben von begabten und benachteiligten Schülern einen Unterschied zu machen.
* Name von der Redaktion geändert.