Miese Rechtschreibung: Und was das mit 1968 zu tun hat

Früher wurde zu viel auf eine elegante Handschrift und eine gute Rechtschreibung geachtet, heute viel zu wenig. Warum wir unseren Kindern keinen Gefallen tun.

Ein Mädchen übt sehr konzentriert das Schreiben mit der Hand.
Ein Mädchen übt sehr konzentriert das Schreiben mit der Hand.imago/allOver-MEV

Neulich habe ich in einem alten Koffer die Deutschhefte meines Großonkels gefunden. Er stammte aus einer fränkischen Bauernfamilie und war Anfang zwanzig, als er im Zweiten Weltkrieg in Russland auf eine Mine fuhr. Er war sofort tot.

Die Hefte stammten aus seiner Grundschulzeit. Was da geschrieben stand, schien mir nicht weiter bedeutsam. Aber das Schriftbild war von einer so makellosen Perfektion, dass es mir kalt den Rücken runterlief. Hätte man heute auf dem Computer eine Schriftart eingestellt, die eine verschnörkelte Handschrift aus dem letzten Jahrhundert imitiert, die Abstände zwischen den einzelnen Buchstaben hätten nicht gleichmäßiger, die Höhen und Tiefen nicht kontrollierter sein können als in der Ausführung dieses Kindes, das einmal mein Großonkel gewesen ist.

Ich stand und schaute: halb staunend über diesen kleinen Kalligrafen, halb schaudernd bei der Fantasie, wie viel Drill vielleicht nötig war, um ein solches Ergebnis zu erzielen. Auf den Seiten fand sich kein einziger Rechtschreibfehler und mir fiel die Erzählung meines Vaters ein, dass die Kinder in seiner Volksschulklasse für jeden Fehler eine „Tatze“ bekamen, also mit dem Stock kurz auf die Hand geschlagen wurden.

Ich verstehe, dass Eltern und Lehrer im Zuge der 68er-Bewegung den Drang verspürten, sich von dieser Pädagogik des Drills und einer zwanghaften Fixierung auf die äußere Form des Geschriebenen loszusagen. Zugleich sind wir jetzt am Ende einer gegenläufigen Bewegung angekommen, die erneut nach einem dialektischen Umschlag verlangt.

Nicht jede Form von Übung ist schon faschistischer Drill

In den Heften meiner Kinder und ihrer Klassenkameraden regiert die totale Formlosigkeit. Die Schüler der Berliner Grundschule beherrschen die Schreibschrift oft gar nicht mehr und rotzen nur noch Druckbuchstaben aufs Papier. Selbst bei Schülern in hohen Gymnasialklassen sieht das Schriftbild extrem ungelenk aus, und die Seiten wimmeln vor Rechtschreibfehlern, obwohl die Regeln eigentlich bekannt sind und auf Nachfrage sofort angewendet werden können. Aber der Zustand, in dem die Schüler die Regeln ganz verinnerlicht haben, wird gar nicht mehr erreicht.

Und das hat viel mit der 68er-Bewegung zu tun: Man wollte und will die Freiheit des Denkens ermutigen, den kreativen Impuls wichtiger nehmen als die Rechtschreibung, was mir sympathisch ist. Aber zugleich gibt es beim Schreibenlernen nun einmal viele Elemente, die Wiederholung und Übung erfordern. Und zu meinen, jede Form von Wiederholung und Übung sei schon „faschistischer Drill“, ist ein fatales Missverständnis.

Kreativität und Anstrengungsbereitschaft

In der dritten und vierten Klasse haben wir unsere Kinder manchmal gebeten, Seiten aus einem Kinderbuch-Klassiker abzuschreiben. Nach der gemeinsamen Korrektur mussten sie die falsch geschriebenen Worte dann richtig schreiben. Besser wäre sicher gewesen, sie hätten alle Seiten, die wie Kraut und Rüben aussahen, noch einmal ganz neu gefasst. Aber als ich das forderte, empfanden meine Kinder das als eine unglaubliche Zumutung.

Ich habe dann nicht darauf bestanden, weil ich sie schonen wollte, mich selbst schonen wollte und mein kumpelhaftes Verhältnis zu ihnen. Aber im Nachhinein bereue ich diese dreifache Schonung: weil junge Menschen mit der Freiheit ihres Denkens und der Kreativität ihres Ausdrucks viel weiter kommen, wenn sie auch die äußeren Formen beherrschen und früh gelernt haben, sich auch mal anzustrengen.

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Susanne Schleyer
Die Kolumne
Eva Corino schreibt bei der Berliner Zeitung über ihre Herzensthemen Bildung und Familie. Ihre Kolumne handelt von Erziehungsthemen, die eine „subkutane Aktualität“ haben und modernen Familien unter die Haut gehen.