In Berlin kamen in diesem Jahr 37.050 Kinder zur Schule. Kolja ist einer davon. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt, nicht nur für ihn, auch für mich. Ich lebe mit ihm in Pankow.
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten unzählige ungebetene Tipps und Ratschläge zum Schulbeginn erhalten. Ich habe mich mal mehr, mal weniger erfolgreich gegen den alten Spruch vom „Ernst des Lebens“ gewährt. „Oh, das wird was. Jeden Tag die gleiche Zeit. Da kommt ihr nicht mehr raus“, meinte unser Freund. „Dann ist alles vorbei, all das Schöne“, nörgelte er weiter. „Und was soll ich nun damit anfangen? Soll ich ihn nicht hinschicken? Kriegt man ihn irgendwie wieder klein? Oder willst du uns dann nicht mehr sehen, um die Tragik nicht aushalten zu müssen?“, fragte ich ihn.
Mit dem Schulbeginn hören die Prophezeiungen einer schwierigen Zeit auf. Es gibt jetzt andere Hinweise, aber ich lasse sie gelassen vorbeiziehen. Ich vermute, Alleinerziehende erhalten ein paar mehr Ratschläge. Sie sind nicht durch einen klassischen familiären Rahmen geschützt, bei dem man scheinbar eher davon ausgeht, dass die Dinge besser laufen müssen. Die Tür steht ein Stück weiter offen. Meine Erfahrung ist, dass man darauf achten muss, sie bewusst immer wieder zuzumachen. Auch wir sind eine Familie, eine kleine zwar, aber auch die ist, so wie sie ist, vollkommen.
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Es ist mit der Schule wie mit allem, was das Leben mit Kindern betrifft. Man muss sich auf seine eigene Art hineinfinden, auf das Kind sehen, auf sich selbst. Man wird zusammen hineinwachsen. Es wird sich zurechtruckeln, ganz bestimmt.
Am Montag ist es nun losgegangen nach großem Feiern und dem mir endlos erschienenem Davor. So sehr ich mir auch Mühe gab, es locker zu nehmen, es war der Sommer vor der Schule, nicht mehr, aber auch nicht weniger mit einer nicht ganz verschwinden wollenden Angespanntheit. Würde alles gut gehen? Was wird sich ändern an unserem Leben? Was ändert sich auch für mich?
„Wir sind uns sehr wohl bewusst darüber, dass Sie uns das Wertvollste und Beste anvertrauen, was Sie haben“, sagt die Schulleiterin zur feierlichen Einschulungsfeier, und ich bemerke, wie ich nicke. „So ist es“, flüstert jemand hinter mir. Den gleichen Satz hatte die Frau mit den knallroten Haaren und einem Tattoo über dem Knöchel schon zum ersten Treffen gesagt und er hatte schon da ein angenehmes Gefühl gemacht – Erleichterung. Und sie bittet: „Sagen Sie offen, wenn Sie etwas stört. Aber kommen Sie ruhig auch mal mit einem freundlichen Wort. Das mögen wir nämlich auch ganz gerne.“
Nach einer Woche Schule ist manches schon fast Routine. Das große Einschulungsfest, das ich wochenlang vorbereitet hatte, kommt uns lange her vor. Ich überlege noch, wie ich den riesigen Haufen Geschenke und die 13 Schultüten auf unsere 60 Quadratmeter große Wohnung verteile. Manchmal rutscht uns das Wort „Kita“ noch aus Versehen heraus, aber das wird immer seltener. Meinem Kolja ist klar, dass er früher ins Bett muss, und dass ich ihn, anders als vorher, vor sieben Uhr wecken muss.
Bis 7.45 Uhr soll man das Kind abgegeben haben. Könnte es nicht für die Kleinsten etwas später losgehen, denke ich, als ich meinen Jungen aus dem Bett hole. Die Lehrerin gibt jedem Kind auf dem Schulhof ein Namensschild. „Haben Sie noch keine Passbilder abgegeben?“, fragt sie mich streng. „Nein, aber heute noch oder spätestens morgen“, stottere ich, als wäre ich das Schulkind.
Solange er hüpft, ist alles gut
Ich filme, wie mein Junge in der großen Tür verschwindet. Die Frau neben mir wischt sich eine Träne aus den Augen. Sie wird es auch noch die ganze weitere Woche tun. „Ach Mensch“, schluchzt sie. „Die Schule hat ihn verschluckt für eine halbe Ewigkeit“, schreibe ich unserem Freund eine Nachricht. „Aber sie spuckt ihn auch wieder aus“, antwortet er.
Etwa ein Viertel der Eltern strömt, trotz der mehrfachen Bitte, es nicht zu tun, mit in die Schule. „Der Sportbeutel, ich trag ihn mit rein“, entschuldigt sich eine Mutter. Nach ein paar Tagen sind es nur noch wenige Eltern, die ungebrochen mit in das Gebäude gehen. „Jetzt machen Sie nicht so eine endlose Verabschiedung wie in der Kita, mit Hin und Her und Tränen. Auf dem Schulhof umarmen, letzter Kuss und dann los“, hatte die Lehrerin gesagt.
Viele Eltern sehen den Schulkindern, auf deren Rücken die schweren Ranzen hängen, lange hinterher. Vor dem Klassenraum zu ebener Erde haben sich Mütter und Väter positioniert. Sie beobachten gerührt, wie die Kinder an ihren Plätzen sitzen. Andere hoffen, dass die Kleinen von den Fenstern der oberen Räume noch mit einem letzten Winken signalisieren, dass alles gut ist. Man könnte Klaviermusik einspielen, eine traurige Symphonie, es würde passen. Ich will ehrlich sein. Auch ich gehe jeden Tag mit etwas schwerem Herzen über den Schulhof zurück zum Auto und frage mich, wann das Gefühl aufhört.
Ich beobachte, wie der Junge guckt, wenn ich ihn abhole. Solange er einen hüpfenden Schritt hat, weiß ich, dass alles gut ist. Und er hüpft noch immer. Er erzählt in den ersten Minuten nach dem Abholen alles, was er für wichtig hält, den restlichen Tag über erwähnt er die Schule nicht mehr. Eine Hausaufgabe gibt es schon, an die er sich erst kurz vor Ende des Tages erinnert. Er soll malen, was er schon gut kann. Er zeichnet sich mit einem Mikrofon in der Hand umgeben von bunten Masken und wird am nächsten Tag erzählen, dass er die Fernsehshow „The Masked Singer“ liebt, selbst gut singen kann und unzählige Kostüme bastelt. Er wird fragen, warum keines der Kinder die Show kennt, und die Lehrerin wird sagen: „Vielleicht, weil sie so spät am Abend kommt.“
Es passiert nicht viel in diesen ersten Tagen. Bücher und Hefte werden zum Beschriften und Einschlagen von der Schule nach Hause und wieder zurück geschleppt. Es gibt noch keinen Stundenplan. Und auch der angekündigte wird eine vorläufige Version sein, schreibt die Lehrerin. Jeden Tag gibt es Mails mit Organisatorischem. Es dauert lange, bis der Zug richtig rollt. Ich ahne, es ruckelt auch hier, was das Personal angeht. Das macht mich unruhig. Ich fühle mich, wie sicher auch andere, als gebranntes Kind.
In der Kita war in den letzten beiden Jahren der Mangel so groß, dass kaum eine Aktivität stattfand. In den Vorschulstunden, die ich in den letzten acht Wochen in der Kita meines Sohnes selbst übernahm, weil sie nie stattgefunden hatten, merkte ich, wie wenig die Kinder in den Corona-Jahren auf die Schule vorbereitet wurden. Es fiel ihnen schwer, still zu sitzen, einer Aufgabe zu folgen, zuzuhören und auf Fragen zu antworten, Dinge, die ein Kind zu Schulbeginn meines Erachtens schon besser können müsste. Ich kann nicht von allen Kitas sprechen, aber in unserer war es so. Erzieher kamen und gingen. Vieles hatte mit Corona zu tun, anderes wurde auf Corona geschoben und wieder anderes auf das offene Konzept, das Kindern die Möglichkeit der freien Bestimmung über alle Aktivitäten ermöglichen soll. Wie schafft man mit dieser Grundlage den Sprung zur Schule, wo es feste Unterrichtsstunden gibt?
Unterm Strich war der Mangel für die Kinder, die nicht auf bessere Zeiten warten können, weil die Kindheit begrenzt ist, eine Katastrophe. Die Schule muss nun einiges auffangen, keine einfache Aufgabe. Aber ich will mich nicht zu sehr sorgen. Erst mal abwarten.
Mit seiner Banknachbarin unterhält sich Kolja nicht viel, nur einmal am Tag verständigen sie sich über das Frühstück, das ihre Mütter eingepackt haben. „Zucker ist in der Schule nicht erlaubt“, hat die Lehrerin am ersten Tag gesagt, und so isst der Junge den kleinen Keks, den ich ihm zur Freude einpacke, heimlich. Heute hat er ihn mit dem Mädchen neben ihm geteilt. „Ich darf zwar nicht, aber ich esse ihn trotzdem gern“, hat sie geflüstert und ihn dann unauffällig in den Mund gesteckt.
Es gab auch den ersten kleinen Ärger. „Die Lehrerin hat mit mir geschimpft, weil ich nicht zugehört habe.“ – „Was hat sie genau gesagt?“ – „Sie hat gesagt: Hast du keine guten Ohren oder willst du mich nicht hören?“ Es hat ihn geschmerzt. „Das ist normal, manchmal wird eben auch geschimpft. Jetzt weißt du, dass du mehr hinhören solltest. Sie meint es nicht böse.“ – „Ist es wirklich nicht schlimm?“ – „Wirklich nicht.“ Ich erzähle am Abend die Geschichte, wie er auf dem Weg zur Schule seine Ohren im Auto vergisst und die Lehrerin mich anruft. Ich rase also mit den Ohren so schnell wie möglich zur Schule. Auf dem Schulhof verliere ich das linke. Der Junge, bei dem ständig etwas schiefgeht, findet es und kriegt heute mal ausnahmsweise viel Lob. Wir schrauben ihm alle gemeinsam die Ohren wieder ran. Ich soll die Geschichte mehrfach erzählen.
Kurz vor der Verabschiedung am nächsten Tag rufe ich Kolja noch einmal zu mir. „Was ist?“ – „Komm noch mal her, ich hab was vergessen.“ Ich nehme seinen Kopf in meine Hände. „Warte kurz, ich schraube dir die Ohren noch ran. Beinahe wäre es wieder passiert.“ – „Danke Mama, jetzt kann nichts mehr schiefgehen.“
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