Litauen stellt die positive Darstellung von Homosexualität unter Strafe. Die Schwulenfeindlichkeit im Land ist groß: Angst vor einer "verrotteten Kultur"
VILNIUS. Das Büro der Lithuanian Gay League, der litauischen Schwulenliga, liegt versteckt im Zentrum von Vilnius. Es gibt kein Klingelschild und wer nur die Adresse kennt, der sucht lange vergeblich. Besucher müssen anrufen, um den Weg von einer Nebenstraße aus durch die Hinterhöfe zu erfahren. Man müsse nicht unnötig provozieren, sagt der Vorsitzende, Vladimir Simonko. Der 45-Jährige engagiert sich seit 1995 für die Rechte von Schwulen und Lesben in Litauen, doch die Situation ist noch immer schwierig, sagt er: "Viele Menschen stehen uns feindselig gegenüber." Kaum ein Homosexueller wage, sich vor seiner Familie oder den Kollegen zu offenbaren. "Sie leben im Verborgenen und müssen ständig etwas erfinden, um nicht aufzufliegen", sagt Eduardas Platovas.Der Gedanke, im Sommer durch die Flaniermeile Vokieciu gatve an den Cafés und Biergärten vorbei zu spazieren, liegt vielen Homosexuellen ebenso fern wie der, auf der Straße Händchen zu halten. Wer sich als Mann femininer kleidet oder einen Anstecker mit den Regenbogenfarben trägt, dem zischeln nicht nur ältere Passanten zu: "Pederasta" - Kinderschänder. "Um keinen Preis auffallen", so beschreibt Platovas die Devise vieler Homosexueller. "Unter sich sind sie in Vilnius nur in einer Bar, dem Soho Club, und natürlich im Internet in diversen Foren und auf Dating-Webseiten. Die Treffen finden dann in der Wohnung statt."Das öffentliche Klima in Litauen ist eindeutig: Die Zeitung Respublika druckte mehrmals eine Karikatur mit dem Titel "Wer regiert die Welt?". Sie zeigt einen muskulösen Schwulen und einen Juden mit Schläfenlocken, auf deren Schultern die Weltkugel liegt. Klagen scheiterten - unter Verweis auf die Meinungsfreiheit. In Kaunas darf ein Uni-Dozent nicht mehr lehren, weil er über seine Homosexualität sprach und einen Rundbrief über Bürgerrechte publizierte. Bekannte Vorbilder gibt es kaum. Nur der Popsänger Ruslanas Kirilkinas hat sich bisher geoutet.Platovas und Simonko fürchten, dass sich die Lage weiter verschlechtert: Vergangene Woche hat das litauische Parlament ein Mediengesetz beschlossen, das Minderjährige vor schädlichem Einfluss schützen soll. Dazu gehört neben Pornografie, Hypnose und Gewaltdarstellungen auch das "Propagieren von Homosexualität, Bisexualität und Polygamie". Wer sich positiv über diese "nicht-traditionelle Lebensformen" äußert, muss von März 2010 an mit Strafen von bis zu 1 500 Euro oder Sozialarbeit rechnen.Die Mehrheit war groß: 87 Abgeordnete stimmten dafür, 25 enthielten sich, sechs waren dagegen. Das Parlament setzte sich über ein Veto des früheren Präsidenten Valdas Adamkus hinweg und ignorierte Proteste von Amnesty International und Human Rights Watch. Initiator Petras Grazulis erklärte: "Wir wollen die Grundlage für eine körperlich und geistig gesunde neue Generation legen, die vor der verrotteten Kultur, die sie sonst überschwemmen würde, geschützt ist."Das Büro des Human Rights Monitoring Institute (HRMI) liegt mitten in der Altstadt, die zum Weltkulturerbe gehört und auf Hochglanz poliert wurde, weil 2009 Vilnius Europas Kulturhauptstadt ist. Laut HRMI-Direktor Henrikas Mickevicius schränkt das neue Gesetz die Meinungsfreiheit ein und verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Jurist nennt das Kernproblem: "Die Schlüsselbegriffe sind nicht definiert. Aus dem Gesetzestext geht nicht hervor, was als Propaganda anzusehen ist und was mit den familiären Werten gemeint ist, die angeblich untergraben werden."Bereits 2006 hatten Abgeordnete um Grazulis vergeblich ein ähnliches Gesetz eingebracht. Die anfangs kleine Gruppe wurde dann von der Kirche unterstützt. Deren Einfluss ist gewaltig: 80 Prozent der 3,4 Millionen Litauer bezeichnen sich als Katholiken; nationale Feiertage werden mit Gottesdiensten in der Kathedrale gefeiert, bei denen kein wichtiger Politiker fehlt. Geistliche treten oft in Parlamentsausschüssen auf, wenn neue Gesetze beraten werden.Auch die Sowjetvergangenheit spielt eine Rolle: Bis 1991 wurde Homosexualität unter Männern mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft und oft mit Pädophilie gleichgesetzt - die Wortwahl hält sich bis heute. Lange galt in Litauen ein für Osteuropa typisches, ungeschriebenes Gesetz: Solange Schwule und Lesben in ihren Nischen bleiben, werden sie toleriert. Gehen sie aber an die Öffentlichkeit, greifen Politiker auf die Vorurteile zurück.Valentinas Mazuronis von der Partei "Ordnung und Gerechtigkeit" hat für das neue Moralgesetz gestimmt. Er beteuert, niemanden benachteiligen zu wollen: Auch Homosexuelle dürften tun und lassen, was sie wollen, solange sie keine Gesetze brechen. "Ich bin aber strikt dagegen, dass bestimmte Gruppen anderen Menschen ihren Lebensstil diktieren und unsere Kinder verderben wollen", sagt der Architekt. Eine Parade im Stadtzentrum, auf der Flyer verteilt werden und Regenbogenfahnen zu sehen sind, ist für ihn schon Propaganda. Es sei schwer, zwischen Information und Propaganda zu unterscheiden, gibt der 55-Jährige zu, aber das Gesetz sei eine Grundlage.Mazuronis trägt einen Anstecker mit den litauischen Farben am Jackett und legt nach: "Wir sind ein kleines Land und müssen traditionelle Werte wie Familie und die Liebe zur Heimat schützen. Sonst wird Litauen als Nation verschwinden." So argumentieren auch Konservative in Rumänien, Ungarn und Lettland, wo 2006 Teilnehmer der "Riga Pride" mit Eiern beworfen wurden.Urteilt man nach den Kommentaren im Internet und den Anrufen bei Radiosendern, befürwortet die Mehrheit der Litauer das neue Gesetz. Nur wenige Politiker und Intellektuelle geben öffentlich Paroli wie die Sozialdemokratin Marija Pavilioniene. Sie fürchtet, künftig könnten Lehrer belangt werden, wenn sie über Homosexualität sprechen. Sie warnt vor einem Klima der Angst: "Das Gesetz ist zu puritanisch, zu katholisch, es führt uns ins Mittelalter zurück."Auch die Bibel und Märchen seien voller Gewaltdarstellungen, sagt Pavilioniene: "Wollen wir die auch verbieten?" Es gebe überall in Litauen häusliche Gewalt, die Selbstmordrate sei eine der höchsten weltweit. "Indem Politiker untersagen, über Sexualität, Verbrechen oder Drogen zu berichten, verschwinden diese Probleme doch nicht aus der Gesellschaft." Für solche Kritik wird die Philologie-Professorin und siebenfache Großmutter als "Feindin der Familie" beschimpft.Das schüchtert andere ein, wie der Menschenrechtler Mickevicius beobachtet hat: "Die kulturelle Elite schweigt." Tomas Venclova, der berühmteste Dichter des Landes, der 1977 aus der UdSSR ausgebürgert wurde und nun in Yale lehrt, kritisiert: "Es deprimiert mich, dass unsere Intellektuellen die Homophobie nicht verurteilen. Wie in der Sowjetunion sorgen sie sich nur darum, was andere über sie denken könnten." Dabei sei es doch ihre Aufgabe, unangenehme Wahrheiten auszusprechen.Junge Emigranten sind beschämtImmerhin hat die neue Präsidentin, Dalia Grybauskaite, das Gesetz als "empörend" bezeichnet. Die frühere EU-Kommissarin fordert Konkretisierungen, doch aus rechtlichen Gründen musste sie das Gesetz unterzeichnen. Um es zu kippen, bleiben zwei Möglichkeiten: Wenn 29 Abgeordnete einen Antrag unterschreiben, muss das Verfassungsgericht die Rechtmäßigkeit prüfen. Der andere Weg führt zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: Sobald eine Person oder Institution verurteilt wird, kann Klage eingereicht werden, über die am Ende die Richter in Straßburg entscheiden.Das aber wird Jahre dauern, schätzt Mickevicius. Er denkt angesichts der Lage in Litauen oft an den Spruch "Zwei Schritte vor, einen zurück". Seit 1991 habe sich alles rasant verändert: Die Demokratie wurde eingeführt, der Kapitalismus bescherte hohes Wirtschaftswachstum, vernachlässigte Gruppen wie Alte und Behinderte erhielten mehr Rechte. "Die Menschen brauchen Zeit, die neuen Werte zu verinnerlichen", sagt Mickevicius.Pavilioniene pflichtet bei: "Bis 2002 haben wir allem zugestimmt, was die EU forderte, wir wollten ja unbedingt beitreten. Nun sind wir Mitglied, und plötzlich kehrt das alte, nationalistische Denken zurück." Es werde 20 Jahre dauern, bis sich die Gesellschaft wandle. Sie fürchtet, dass noch mehr Studenten Litauen verlassen oder nicht zurückkehren. In Internetforen äußern sich viele junge Emigranten voller Scham über die Heimat.Auch bei der Lithuanian Gay League ist die Stimmung gedrückt. Eduardas Platovas sagt: "Wir sind so pessimistisch wie nie zuvor." Bis Jahresende erhält die Liga noch Geld aus Norwegen und Holland, danach ist alles offen. Ob die für die Mai 2010 geplante Parade Baltic Pride genehmigt wird, sei fraglich.------------------------------Mehrheit ist katholisch1991 wurde Litauen unabhängig, 2004 trat es der Europäischen Union und der Nato bei. Vier Fünftel der 3,4 Millionen Litauer bezeichnen sich als Katholiken.Von der Finanzkrise ist Litauen wie der Nachbar Lettland hart getroffen. Experten rechnen, dass die Wirtschaft 2009 um mindestens 15 Prozent schrumpfen wird. Zwischen 2000 und 2007 lag das Wachstum stets über sieben Prozent.Informationen über das neue Mediengesetz und die Situation von Homosexuellen in Litauen gibt es bei der Lithuanien Gay League und beim Human Rights Monitoring Institute: www.lgl.lt/indexe.php www.hrmi.lt.------------------------------Karte: LitauenFoto: Schwulenfeindlicher Protest in Vilnius: "Sie werden uns nicht beherrschen", steht auf dem Schild.