Londoner Akten aus dem Zweiten Weltkrieg, die bislang unter Verschluß waren, dokumentieren die britischen Pläne für ein Attentat auf Adolf Hitler: Scharfschützen am Obersalzberg
LONDON, 23. Juli. Das Telegramm aus Algier war offenbar leicht mißverständlich. "Wir sind nicht, wiederhole: nicht, verrückt, und dies ist kein Witz", klapperte es am 19. Juni 1944 über das Kabel nach London, und so wurde der Vorgang umgehend an den britischen Außenminister Anthony Eden übermittelt. Eden las, was das Hauptquartier der "Special Operations Executive" (SOE) im Jargon der Streitkräfte die "Abteilung für ungehörige Angelegenheiten" sich Neues für die Kriegsführung ausgedacht hatte, und gab das Telegramm sofort weiter. Und zwar an Winston Churchill. Dann gab der Generalstab grünes Licht. Der Plan, Adolf Hitler bei einem Aufenthalt nahe Perpignan in Südfrankreich umzubringen, durfte in die Tat umgesetzt werden. Das Vorhaben wurde zwar nicht realisiert, doch der Attentatsplan fortgeschrieben. Am 29. Juni 1944 versammelte SOE-Chef Generalmajor Colin Gubbins eine Gruppe seiner "führenden Experten" im Raum 312 der War Offices in London, um die "Operation Foxley" ins Leben zu rufen. Ziel der Überlegungen: ein Anschlag auf den deutschen "Führer". Das gewünschte Ergebnis der "Operation Foxley" blieb bekanntlich aus; die alliierten Armeen mußten Hitler bis in den Bunker der Berliner Reichskanzlei verfolgen, wo er sich schließlich selbst das Leben nahm. Die Akten über dieses bislang streng geheime britische Kommando, die am gestrigen Donnerstag in London erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, konnten also nicht mit einer Erfolgsmeldung geschlossen werden. Doch unabhängig davon werfen sie ein neues Licht auf die britische Aufklärung und Sabotagepläne im Zweiten Weltkrieg. Gift im TeeDie SOE das zeigen die Dokumente arbeitete nicht nur an Attentatsplänen. Aktenfüllend spionierte die Einheit auch das Sexualleben von Nazigrößen aus, um diese vor den Wehrmachtssoldaten bloßstellen zu können. Mit Himmler-Briefmarken oder Falschmeldungen versuchten sie, die deutschen Mitläufer zu verunsichern. Die Überraschung des jetzt geöffneten Archivs aber sind ohne Frage die Attentatspläne, die ein eigenes 122-Seiten-Dossier füllen. Frei von phantastischen Gedanken ist diese Akte nicht. Die Militärs notierten da zum Beispiel die Idee, Hitlers Tee vergiften zu wollen. Da er ihn mit Milch trinke, könne sich die Farbe des Getränks durch das Gift ruhig verändern, argumentierte man. Andere wollten tödliche Substanzen in den Wassertank des "Führerzuges" kippen; einen Reisezug, mit dem Hitler häufig unterwegs war. Selbst Bakterien sollten nach diesen Plänen zum Einsatz kommen, "vielleicht so was wie ein Millionstel eines Gramms", eingearbeitet in die Imprägnierung von Kleidungsstücken, die Adolf Hitler benutzte.Ende des Jahres 1944 hatten die Attentats-Planer sich aber offenbar auf drei etwas realistischere Szenarien geeinigt. Ansatzpunkt Nummer eins waren Hitlers Spaziergänge in der Nähe seines Wohnsitzes auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden, wo er sich möglichst häufig aufhielt. Jeden Morgen, so glaubten die Briten zu wissen, liefe Hitler dort unbeaufsichtigt eine stets immergleiche Strecke ab, bevor er mit dem gepanzerten Wagen wieder zurück zum Haus gefahren wurde. Ein britischer Präzisionsschütze könnte Hitler auf dem Weg auflauern, schrieben die Attentats-Planer, alternativ wäre die "Führer-Limousine" auf dieser einsamen Strecke mit einer Panzerfaust anzugreifen. Die Begeisterung für diesen Plan war so groß, daß der SOE-Chef im März 1945 bereits einen Freiwilligen gefunden hatte, der sich als Schütze verwenden wollte: ein Major namens E. H. Bennett. Plan B beschäftigte sich mit dem besagten "Führerzug". Den könnte man in einem Tunnel sprengen oder mit einer Kofferbombe bewerfen, wenn er durch einen Bahnhof fahre, heißt es im Dossier. Der Waggon Adolf Hitlers, so ein hilfreicher Hinweis, sei mit einer besonderen weißen Linie gekennzeichnet. Plan C, der vielleicht der realistischste war, spielte wiederum in Berchtesgaden. Nach einem gezielten Bombardement aus der Luft sollte ein SAS-Fallschirmspringer- Bataillon auf dem Berghof landen und mit den "260 oder so" Rest-Verteidigern aufräumen, bevor es dann Hitler stellen würde. Eine Frage der EhreWie man aber Waffen, Bomben oder gar Attentäter in die Umgebung Hitlers bekommen sollte, dazu bleiben die Ausführungen eher vage. "Die Pläne lesen sich teilweise etwas naiv", erklärte Michael Foot, ein Historiker der britischen Streitkräfte, jetzt in London. Foot deutete an, daß sich die SOE vielleicht nicht völlig im klaren gewesen sei, was für eine schwierige Aufgabe solch ein Attentat bedeutet habe.Erkenntlich wird aus der Lektüre der Akten zudem, wie uneins sich die SOE-Führung in London über Sinn und Folgen einer entsprechenden Operation waren. Der Chef der deutschen Sektion der SOE, Major Field-Robertson etwa, hielt nichts von einer Ermordung Hitlers. Dadurch würde man den Mann nur zum Märtyrer machen, hielt er den Befürwortern eines Attentats entgegen. Zudem wäre so etwas eine Frage der Ehre: "Es wäre fürchterlich, wenn die Welt dazu käme, zu denken, daß die Alliierten zu solchen niederen Methoden hätten greifen müssen, weil sie sonst nicht in der Lage gewesen wären, die deutsche Militärmaschinerie zu besiegen." Field-Robertson listete noch einen weiteren Grund dafür auf, den deutschen Kriegsführer am Leben zu lassen. "Ich zögere nicht, sagen zu wollen, daß sein Wert für uns gleichbedeutend ist mit einer geradezu unbegrenzten Zahl von erstklassigen, in Deutschland strategisch plazierten SOE-Agenten." Diese Einschätzung begründete er so: Hitler sei ein hoffnungslos schlechter Stratege, so daß ein Machtwechsel in Deutschland den militärischen Sieg der Alliierten eher hinauszögern würde. Die Planungen wurden Ende März 1945 gestoppt. Zwei Monate später brachte Adolf Hitler sich in Berlin um. Die Geschichte war über die "Operation Foxley" hinweggegangen.