Martin Walser probt schon mal das Altersirresein. Heute erscheint seine neue Novelle: Die Vorhaut Christi
Im Alter werden manche komisch. Sie merken es nicht selbst, wenn doch, lassen sie es sich nicht anmerken. In einem Dorf, das Letzlingen heißt, werden die Schrulligkeiten der Älteren wohlwollend "Mödelen" genannt. Kleine Moden, Eigenheiten. In seiner neuen Novelle plädiert Martin Walser, auf die 83 zugehend, für das Extra-Menschenrecht auf Verschrobenheit. Und das liest sich sehr komisch.Mit Kopf, Unterbauch oder Seele von Augustin Finli, Chef des Psychiatrischen Landeskrankenhauses (PLK) in Scherblingen (noch so ein super Name), monologisiert Walser in "Mein Jenseits" über das an sich nicht komische Thema des Lebensendes. Was macht ein Materialist, wenn das Diesseits abkackt? Wenn hier nichts mehr zu holen und zu erhoffen ist und er bald den Löffel abgeben muss? "Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt. Aber dann schon." Der Finli philosophiert sich also an den lieben Gott heran. "Warum glauben wir? Weil uns etwas fehlt. Ein Vorfahr von mir hat gesagt: Glauben heißt Berge besteigen, die es nicht gibt." Walsers Ich-Erzähler schwadroniert so heiter im befreiten Bewusstseinsraum vor sich hin, auf dass ihm noch der redundanteste Blödsinn als Originalerkenntnis vorkommt: "Gefühle . bestimmen, wie ich mich fühle." Ist das noch Dada- oder schon Gagaismus?Geharnischt wie Don Quichotte in Sätzen von edler Einfalt und finaler Behauptungsdichte lässt Walser seinen Protagonisten zum letzten Gefecht antreten. Dazu geht's erstmal mit dem Flugzeug nach Rom, Sitz 32 A, also Fensterplatz. "Rom ist mein Jenseits", erkennt der salbadernde Egomane dort schlagartig. In "seiner" Basilika meditiert er vor Caravaggios Madonnenbildnis über die Schönheit zum Laufen benutzter Fußsohlen und die Anstrengung der Anbetung ("Armes Paar, tolle Dame"). Auf dem Corso kauft er sich zwei Hemden. "Das Jenseits muss schön sein. Sonst kannst du es gleich vergessen."Doch Vanitas vanitatis, vergeblich geschöngeistert. Der Kampf um Rom findet daheim am Bodensee statt. In der PLK im einstigen Kloster von Scherblingen wartet der gerade mal 41-jährige Chefarzt begierig auf Finlis Abgang. Kann er lang warten. Dieser Jungspund - Dr. Bruderhofer! - hat ihm doch schon die Eva Maria weggeschnappt, kaum dass deren Gatte Graf Richard Sandro von Wigolfing an der Eiger Nordwand erfroren war. Doch nun stehen sich zwei Giganten gegenüber: Tradition gegen Moderne! Psychopharmaka gegen Johanniskraut, europäische Aufklärung gegen religiösen Wahn, der virile Potenzbolzen, der "Hart-am-Wind-Segler" und Ältliche-Sekretärinnen-Herumwirbler gegen den alten Sack, der als "Schwanz" (sic) schon damals bei Eva Maria "nie in Frage gekommen ist". Der Sieger steht fest und interessiert nicht. Wie aber gelingt das endgültige Verlieren?Mit In-Würde-abtreten, Loslassen, den Platz Räumen, mit all dem Weichei-Getue ist man bei Walsers altem Bock an der falschen Adresse. "Anstatt befriedigt oder weise oder dankbar zu ersticken, tust du wieder alles, um Luft zu kriegen. Und kriegst Luft. So viel Luft, wie du brauchst für den Jenseits-Schrei." Das Sterben ist kein friedliches, müdes, erschöpftes Hinwegdämmern, mit dem er sich abfinden könnte. Sein Jenseits bedeutet "lebendige Anregung, eine Leistung". "Mein Jenseits" ist Walsers zornige, trotzige Kampfansage gegen den Tod.Und deshalb, kurz vor Schluss, die Handlung: Finli entwendet aus seiner Stiftskirche (er hat den Schlüssel zur Sakristei) die Monstranz, die Millionenreliquie mit dem Blutstropfen Christi im Bergkristallgefäß, um zu beweisen, dass man den rituellen Blutritt vom Bodensee genauso gut mit einer Fälschung durchziehen kann. Echt oder unecht, total egal, Hauptsache der Glaube daran ist wahrhaftig. In seinen Forschungen zur Reliquienverehrung stößt Finli auf Fäden aus Marias Gewand, Teile von Moses' Stab, Partikel des Golgathakreuzes, Milch der Jungfrau Maria, ein Stück von Christi Nabelschnur, ja selbst die heilige Vorhaut Jesu Christi, Praeputium oder Praepuz genannt, soll als Reliquie durch Europa gewandert sein.Nur das mit dem Selber-dran-glauben, das glauben wir Walsers altersirrem Alter Ego nicht. Nichts läge ihm ferner als Demut. Nie würde er aus freien Stücken in die Knie gehen vor einer höheren Macht. Wieso an Gott glauben, wenn er doch selber einer ist? Und die existente Angst vor dem Tod will er mit seinen Jenseitskonstrukten ja gerade bannen.Das herrlich Unterhaltsame daran ist, dass wir diesen "alten Knaben", wie sich Finli hinter seinem Rücken gerne genannt weiß, keinen Moment sympathisch finden. Das Knabenhafte des ewig Verschmähten kippt vom Peinlichen umweglos ins Senile. Er ist und bleibt ein besserwisserischer Knacker, der keinen Furzbreit von seinem Sessel rücken will. Um seine Pensionierung ins Unendliche hinauszuschieben, hat er im Alter von 63 aufgehört zu zählen. Wenn das vor knapp 20 Jahren gewesen ist, müsste er heute so alt sein wie Martin Walser.In masochistischer Lust teilen wir mit dem Giftzwerg seine Niederlagen gegen den Gecken im honigfarbenen Cordanzug und grobschlächtig kariertem Hemd, schadenfreudig teilen wir die neidische Bösartigkeit des Zukurzgekommenen, mit der er die Angeber-Postkarten des Konkurrentenschnösels aus den stets "orientalisch turbulenten" Häfen der türkischen Ägäis kommentiert.Walsers "sterbendes Tier" ist ein wunderbar selbstgerechter, eitler Saftsack. Es will einfach kein Mitleid aufkommen, ganz gleich, wie sehr er sich zum Affen macht, wie jammerlappig er leidet, wie inbrünstig er aufjault, wie unhörbar er schreit und keift. Aber statt zur Emphase lädt Walser zu luzide bösem Entertainment mit ihm ein. Denn die kunstsinnige Madonnen-Anbetung, das religionsbetuliche Reliquien-Geforsche, das besinnliche Gottesbeweisgesummse ist nichts anderes als das selbstgenügsame Gebrabbel eines Möchtegern-Schriftstellers, der noch lange kein Ende der Fahnenstange erkennen will. Bester Dödelfunk quasi, hinter dem weder Erlösung noch Jenseits aufdämmern, sondern einfach weiter Amüsement. Unendlicher Spaß, auf Deutsch gebrockelt, mit Wagnersoundtrack statt Werbeblöcken. Macht Walser sich etwa über uns lustig?Anders gesagt: "Gäbe es Gott, könnten wir nicht von ihm sprechen. Dann gäbe es das Wort nicht. Das Wort gibt es, weil es ihn nicht gibt. Ja?" Und wer, wenn nicht der Dichter wäre dann sein gottgleicher Schöpfer. Der Walser'sche Wortmacho aber glaubt nicht mal ganz an die höhere Macht, die er selbst erfunden hat. Und solange der komische Kauz noch jemandem seine Gedanken diktieren kann, ist darauf - gottseidank! - Verlass.------------------------------Foto: Martin Walser: Mein Jenseits. bup (Berlin University Press), Berlin 2010. 119 S., 19,90 Euro.Foto: Martin Walser plädiert für das Extra-Menschenrecht auf Verschrobenheit.