Feuerwehr Berlin im Ausnahmezustand: Warum ignoriert der Senat diese Vorschläge?

Jeden Tag fehlen Rettungswagen bei der Berliner Feuerwehr. Dabei gibt es Vorschläge, wie Abhilfe geschaffen werden kann. Umgesetzt werden sie bisher nicht.

Mitarbeiter von Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr bringen eine Trage in einen Rettungswagen.
Mitarbeiter von Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr bringen eine Trage in einen Rettungswagen.dpa/Fabian Sommer

In diesem Jahr hat die Berliner Feuerwehr bereits 167-mal den „Ausnahmezustand Rettungsdienst“ ausgerufen. Am Wochenende bestand er sogar für die Dauer von 16 Stunden. Zeitweise stand am Wochenende – und auch am Montag – nicht ein Rettungswagen (RTW) zur Verfügung.

Trotzdem müssen RTW immer wieder mit Blaulicht losrasen zu Patienten, die über Schlafstörungen, Übelkeit oder Verstauchungen klagen. Notfälle sind das nicht. Doch die Feuerwehr ist verpflichtet, zu kommen. In dieser Zeit können die Retter dann nicht beim Schlaganfall helfen.

Ausnahmezustand (AZ) ist inzwischen Normalzustand bei der Berliner Feuerwehr. Das liegt zum einen am fehlenden Personal – aber nicht nur. Auch intern könnten nach Ansicht vieler die Abläufe verbessert werden. Nach Angaben eines Feuerwehrsprechers erarbeitet derzeit eine „Taskforce“ Ideen, an welchen Stellschrauben noch gedreht werden kann.

Die Berliner Zeitung hat einige Vorschläge zusammengetragen, wie das Problem des Dauer-Ausnahmezustandes gelöst und kurz- und mittelfristig die Belastung im Rettungsdienst gesenkt werden sollen.

Eine der Stellschrauben, an denen aus Sicht der Feuerwehrführung noch gedreht werden kann, ist die „Statusgenauigkeit“ für die Rettungswagen. Die Fahrer müssen stets per Funk eine Statusmeldung abgeben, wann sie wo eingetroffen sind. Mitunter ist dem zuständigen Disponenten aber nicht klar, ob ein RTW noch in der Klinik oder schon wieder zurück in der Wache ist, weil des Öfteren vergessen wird, die entsprechende Statustaste zu drücken.

Vorschläge für Lösungen kommen von der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft (DFeuG) und der Gewerkschaft der Polizei (GdP), die zahlreiche Feuerwehrleute vertritt.

Das schlägt die Deutsche Feuerwehrgewerkschaft (DFeuG) unter anderem vor:

Arbeitsschichten: „Ein Baustein wären versetzte Ablösezeiten, durch die es eine höhere Verfügbarkeit von RTW gäbe“, sagt der Berliner Gewerkschaftschef Lars Wieg. „Zurzeit lösen alle zur selben Zeit ab: um 7.00 und um 19.00 Uhr.“

Fahrpersonal: Aus Wiegs Sicht ein weiterer Baustein: Bislang werden die Notarzteinsatzfahrzeuge (NEF) sowohl von Rettungsassistenten als auch von Notfallsanitätern gefahren. Für die NEF sollten laut Wieg aber nur Rettungssanitäter eingesetzt werden. Diese haben die niedrigste Ausbildung, aber sie reicht, um das Auto des Notarztes zu fahren. Somit wären mehr medizinisch verantwortliche Personen wie Notfallsanitäter und Rettungsassistenten verfügbar, so Wieck.

Krankenhausverlegungen: Laut Feuerwehrstatistik mussten RTW im vergangenen Jahr 17.000 Patienten zwischen Krankenhäusern verlegen. Wieg schlägt vor, diese Transporte aufzuschieben, wenn eine hohe Auslastung der Rettungsmittel bestehe, „um die Fahrzeuge der Primärrettung zu entlasten“. Früher hatten die Krankenhäuser eigene Transportautos. Doch das wurde zu teuer, weshalb die Kliniken jetzt die Feuerwehr rufen.

Erkunder: Die Feuerwehrgewerkschaft fordert auch die Einführung des NOTSAN-Erkunders – eines Vorausfahrzeugs, das herausfinden soll, ob der Patient in ein Krankenhaus muss oder anderer Hilfe bedarf – und eine telemedizinische Beratung von Anrufern in der Leitstelle.

Das schlägt die Gewerkschaft der Polizei (GdP) unter anderem vor:

Rettungsdienstgesetz-Änderung: Bislang würde als Hauptverantwortlicher der Ärztliche Leiter der Feuerwehr haften, wenn kein RTW geschickt würde und sich vermeintlich harmlose Bauchschmerzen als eine schwerwiegende Krankheit herausstellen. Deshalb schlägt die GdP vor, durch eine Gesetzesänderung die Eigenverantwortung von Patienten zu stärken, etwa wenn sie wochenlang nicht zum Arzt gegangen sind.

Rückmeldungen der Krankenhäuser: Krankenhäuser sollen der Feuerwehr eine Rückmeldung machen über den Zustand des Patienten nach Einlieferung in der Notaufnahme – vom eingewachsenen Fußnagel bis zum Herzinfarkt. So gibt es einen besseren Überblick über die Bagatelleinsätze. Und die Codes, ob ein RTW geschickt wird oder nicht, können angepasst werden – und zwar durch ein Gremium und nicht nur durch den Ärztlichen Leiter der Feuerwehr.

Prioritäten: Die GdP schlägt vor, die RTW-Beschickung nach Zuständen zu priorisieren: „Lebensgefährdend“, „Gesundheitsgefährdend“ und „In Abklärung“ (eingewachsener Zehennagel etc.).

Leitstelle: Bisher kommunizieren Feuerwehr und der Kassenärztliche Bereitschaftsdienst mit unterschiedlichen Leitstellen. Eine gemeinsame Krankentransport-Leitstelle der privaten Krankentransporteure könnten die Kommunikationswege verkürzen. Eine gemeinsame telefonische Erste-Hilfe-Beratung (Pflasterkleben usw.) in Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung könnte dazu führen, dass von dieser mehr Einsätze übernommen werden.

„Wenn du abends im RTW sitzt und vom eingewachsenen Zehennagel zum kleinen Papierschnitt einmal quer durch die Stadt fährst, wundert es dich längst nicht mehr, wenn wieder der nächste AZ ausgerufen wird“, sagt GdP-Landesvorstand Oliver Mertens. „Aufgabe der Notfallrettung ist es, das Leben oder die Gesundheit von Notfallpatienten zu erhalten, sie transportfähig zu machen und sie unter fachgerechter Betreuung in eine für die weitere Versorgung geeignete Einrichtung zu befördern. Notfallpatienten sind Personen, die sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befinden oder bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn sie nicht umgehend geeignete medizinische Hilfe erhalten. Die saure Milch ist das nicht.“

Die Kausalität werde sich nie zweifelsfrei herstellen lassen, weil RTW natürlich immer zu spät eintreffen können, sagt Mertens. „Aber Fakt ist, dass Menschen sterben werden, wenn kein RTW zur Verfügung steht.“

Weitere Vorschläge, die Feuerwehrleute gegenüber dieser Zeitung äußerten:

„Gemeindeschwester“: „Benötigt jeder Patient einen Notfallsanitäter?“, fragt ein Feuerwehrmann. In Hessen gebe es sogenannte Notfallkrankentransportwagen (NKTW). Die Kollegen sind zwar keine Notfallsanitäter, aber das reicht für unterschwellige Einsätze. Dies sollte im Interesse der Krankenkassen sein. Die Kosten eines NKTW dürften deutlich unter einem RTW liegen. In Oldenburg gebe es Gemeindenotfallsanitäter. Früher gab es in jedem kleinen Dorf in der DDR eine Gemeindeschwester, die die kleinen Wehwehchen versorgt.“

Rechnungen an Patienten: Ein inzwischen pensionierter Hauptbrandmeister erinnert sich: „Es gab mal eine Zeit, etwa 2016, da war der Vertrag der Krankenkassen mit der Berliner Feuerwehr ausgelaufen und versehentlich nicht verlängert worden. Dieser Vertrag hat geregelt, dass die Berliner Feuerwehr direkt mit den Kassen abrechnet. Weil es ein paar Wochen keine Regelung gab, bekam ein Mensch in Not, der die Feuerwehr rief, die Rechnung vom Rettungswageneinsatz von der Abrechnungsstelle der Feuerwehr direkt nach Hause geschickt. Er musste die Rechnung bezahlen, sie bei seiner Krankenkasse einreichen und bekam das Geld von seiner Krankenkasse erstattet. Wie durch ein Wunder gingen die Rettungswageneinsätze innerhalb dieser Wochen um circa 50 Prozent zurück, weil sich die Patienten überlegt haben, ob sie wegen einer Kleinigkeit die 112 wählen. Welch einfache Lösung!“

Danach habe die Feuerwehr wieder direkt mit den Kassen abgerechnet und die Einsatzzahlen seien wieder nach oben gegangen.