Stress in Fahrschulen: 11.000 Berliner warten auf Termin für die praktische Prüfung
Fahrschulen müssen sich mit Sicherheitsfirmen vor wütenden Prüflingen schützen. Wer ist Schuld: die Prüfstellen, der Senat oder die Corona-Pandemie? Wir haben bei einer Berliner Fahrschule nachgefragt.

Es gibt Tage, da muss Birol Sevim die Polizei rufen, weil Kunden in seiner Fahrschule auf den Tisch schlagen, seine Mitarbeiterinnen bedrängen, ihm nach der Arbeit auflauern. Manche würden ihn anschreien: Gib uns einen Termin zur Fahrprüfung! Aber Sevim kann nicht. In Berlin gibt es kaum Termine. „Mein Ruf steht auf dem Spiel“, sagt er. „Es geht um meine Existenz.“
Wedding, Schwedenstraße, nicht weit vom S-Bahnhof Gesundbrunnen. Dicke Autos rollen hier vorbei, Mercedes, BMW, aus ihren Fenstern schwappen Hip-Hop-Beats über die Straße. Drinnen, in der Fahrschule Sevim, leuchtet alles lila-blau-violett. An der Decke hängen Kronleuchter, die Wände haben Klinker-Optik. An einer Wand steht in Leuchtschrift „Birol Sevim“. Gegenüber sitzt Sevim, 41 Jahre alt, dunkle, zurückgegelte Haare, großes Tattoo auf der Schulter, am Handgelenk eine goldene Rolex.
Sevim ist Inhaber der wohl größten Fahrschule Deutschlands. Er hat vier Filialen in Berlin, 70 Fahrlehrer, insgesamt etwa 100 Mitarbeiter. Eigentlich brummt sein Geschäft. Doch gerade plagt Sevim eine Zahl: 1300. So viele Fahrschüler warten bei ihm auf einen Termin zur praktischen Prüfung. Er sagt: „Vor der Pandemie konnte ich in wenigen Wochen jedem einen Termin besorgen, heute wartet man im Schnitt fünf Monate.“ Deswegen gebe es jetzt täglich Stress in seiner Fahrschule. Und nicht nur hier wird die Stimmung gereizter.
Eine riesige Welle von wartenden Fahrschülern in Berlin
11.000 Fahrschüler warten derzeit in Berlin auf einen Termin, heißt es vom Fahrlehrer-Verband. „Wir schieben eine Welle von Fahrbereiten vor uns her, die wird immer größer“, sagt dessen Vorsitzender, Stephan Ackerschewski.
Durch die langen Wartezeiten würden Schüler bis kurz vor der Prüfung keine Stunden mehr nehmen, was zu der paradoxen Situation führe, dass die Schulen zwar voll seien, die Lehrer aber weniger zu tun hätten. Es gebe sogar Fahrlehrer, sagt Ackerschweski, die müssten sich einen Nebenjob suchen.
Vor allem aber hätten die Fahrschulen mit immer mehr ungeduldigen, teils aggressiven Kunden zu tun. Es sei schon zu Flaschenwürfen gekommen. Und mancherorts mussten Fahrschulen Sicherheitspersonal einstellen.

Der Ursprung des Problems liegt wohl in der Pandemie. Während der beiden Lockdowns habe sich, so Ackerschewski, ein großer Stau an Fahrschülern gebildet, die zwar ihre theoretische Prüfung bei Tüv und Dekra machen konnten. Die Praktische aber nicht.
Tausende prüfbereite Schüler kamen nicht dran. Die beiden Prüfstellen in Berlin, Tüv und Dekra, kämen nicht mehr damit hinterher, die vielen Wartenden abzuarbeiten. Sie seien überlastet, hätten zu wenig Prüfer.
Hinzu kommt eine gesetzliche Verlängerung der Prüfzeit um zehn Minuten seit Beginn des vergangenen Jahres. Dadurch schafft ein Prüfer 20 Prozent weniger am Tag. Nur noch acht statt zehn Prüfungen. Das Problem existiert bundesweit, sogar aus dem Allgäu ist von solchen Problemen zu hören. „Aber Berlin ist der Brennpunkt“, sagt Ackerschewski. Er, Sevim und andere Fahrlehrer werfen dem Tüv und der Dekra vor, sie hätten viel zu spät auf diese Situation reagiert. „Dabei war es lange abzusehen, dass es so kommen würde“, sagt Ackerschewski. „Man hätte frühzeitig mehr Prüfer einstellen müssen.“
Dekra und Tüv wehren sich gegen die Vorwürfe
Man muss natürlich mit den Prüfstellen über diese Vorwürfe sprechen. Beim Tüv aber heißt es, man wolle sich zu dem Thema nicht mehr öffentlich äußern. Offenbar hatte es zuletzt starke Anfeindungen seitens der Fahrlehrerschaft gegeben. Von einem Shitstorm gegen die Prüfungsleiter ist zu hören.
Die Dekra antwortet immerhin schriftlich: Auf die Einführung der längeren Prüfzeit sei man eingestellt gewesen und habe die Kapazitäten erhöht. „Auf das stark erhöhte Aufkommen, das nach zweimaligem Corona-Lockdown aus den Fahrschulen auf uns zukam, mussten wir dagegen ad hoc reagieren.“ Zudem habe man mit einer stark erhöhten Krankheitsquote bei den Prüfern zu kämpfen. Trotzdem habe man in den ersten Monaten dieses Jahres 17 Prozent mehr Prüfungen durchgeführt als im gleichen Zeitraum vor der Pandemie. Und die Zahl von 11.000 Wartenden könne man nicht verifizieren.
Birol Sevim sagt: „Dekra und Tüv sollten mal lieber erklären, wie viele Prüfungen sie nicht geschafft haben.“ Fast wirkt es, als habe die Wut seiner Kunden auch ihn erfasst. Man bekommt diesen Eindruck bei vielen Berliner Fahrschulinhabern.
In Telefonaten mit ihnen hört man immer wieder dieselben Fragen: Wie kann es sein, dass Dekra und Tüv darüber bestimmen dürfen, wie viele Prüfungen wir bekommen? Wie kann es sein, dass zwei private Unternehmen so massiv in die wirtschaftliche Situation anderer privater Unternehmen, also der Fahrschulen, eingreifen können? Denn: Je mehr Fahrschüler auf einen Termin warten, desto mehr unzufriedene Kunden gebe es.
Die Fahrschulen ärgert vor allem die Kommunikation mit den Prüfstellen. „Früher hat man einfach angerufen, wenn irgendwas war“, erzählt die Büroleiterin von Birol Sevim. Neulich habe sie 98-mal versucht, bei der Dekra jemanden zu erreichen. Ein Schüler sei kurzfristig krank geworden und habe die praktische Prüfung nicht machen können. Sie hätte stattdessen gern einen anderen Schüler eingesetzt. Beim 98. Mal sei jemand von der Dekra rangegangen und habe gesagt, sie solle eine E-Mail schreiben. „Aber die arbeiten gerade noch E-Mails von Februar ab“, sagt die Büroleiterin.

Je länger man auf die Prüfung wartet, desto teurer wird es
Es kommt nun ein 30-jähriger Mann in den Laden an der Schwedenstraße. Er trägt eine olivgrüne Weste, die Haare an den Seiten raspelkurz. Sein Name ist Saleh. „Der will jetzt bisschen aufmucken, weil er keinen Termin kriegt", sagt Birol Sevim. Offenbar war Saleh schon öfter da. Er steuert auf Sevim zu.
„Ich war bei der Dekra, die sagen, du kannst mir einen Termin geben“, sagt er.
„Nein kann ich nicht, die geben uns Termine und wir arbeiten die Warteliste ab“, antwortet Sevim. Er erzählt, er habe schon häufiger gehört, dass Dekra und Tüv die Schüler mit dem Hinweis abwiesen, ihre Fahrschule könne helfen. „Das ist eine Frechheit“, sagt Sevim. „Aber kannst du nicht ein gutes Wort für mich einlegen“, fragt Saleh. Sein Termin sei erst in drei Monaten, er könne sich zusätzliche Stunden nicht mehr leisten. „Was soll ich für ein gutes Wort einlegen“ sagt Sevim. „Von mir aus könnten wir heute deine Prüfung machen.“
Später sagt Sevim: „Der war noch Zucker.“ Immer öfter aber gehe es nicht so harmlos zu. Hat er manchmal Angst? „Angst hat man immer im Kiez“, sagt Sevim. Inzwischen aber sitze er oft morgens noch eine Weile im Auto und frage sich, wie der Tag wohl werde. „Von zehn Schülern beschweren sich gerade acht“, sagt seine Büroleiterin. „Wir sind nur noch der Sündenbock.“
Hohe Durchfallquoten verschärfen das Problem
Wie kann das Problem gelöst werden? Nicht überraschend, dass es auch dazu höchst unterschiedliche Ansichten gibt. Die Prüfstellen verweisen bei Anfragen gern auf die hohen Durchfallquote in Berlin. Diese lag im ersten Quartal des Jahres bei 42,4 Prozent. Beinahe jeder zweite Schüler falle demnach durch. 2019 dagegen habe die Quote noch bei 39,9 Prozent gelegen. Die Tendenz sei weiter negativ.
Stephan Ackerschewski, der Vorsitzende des Fahrlehrer-Verbands, wird am Telefon laut, wenn er solche Aussagen hört. „Das soll mir mal einer ins Gesicht sagen“, ruft er. Die steigenden Durchfallquoten seien doch die direkte Folge der langen Wartezeiten. Seiner Meinung nach müssten die Prüfstellen signifikant das Personal aufstocken. Dafür könnte man, findet er, auch Fahrlehrer nehmen. Es gebe einige in Berlin, die nicht mehr unterrichteten und Prüfungen abnehmen könnten.
Aber in Berlin darf nur Prüfer sein, wer ein technisches Studium absolviert hat, wer also Maschinenbauingenieur ist oder ähnliches. Diese Hürde könne man doch herabstufen, so Ackerschweski. In Hamburg werde es so bereits gemacht. „Aber es scheitert am Senat.“ Die Senatsverwaltung für Umwelt und Verkehr entgegnet darauf, die praktische Prüfung sei bundeseinheitlich geregelt. Eine Vergleichbarkeit sei nicht mehr gegeben, wenn in Berlin anderes Personal eingesetzt werden. „Die Anfechtbarkeit negativer Prüfungsbewertungen wäre zu erwarten und mutmaßlich erfolgreich.“
Und so sieht es fast so aus, als bleibe alles, wie es ist. Trotz all der Wut und der Probleme. Birol Sevim erzählt, bei ihm gebe es nun des Öfteren Schüler, die sich eine andere Fahrschule suchten, weil sie glaubten, dort ginge es schneller. „Stell dir vor, du hast ein Café und 11.000 Leute wollen bei dir Kaffee bestellen“, sagt er zum Schluss noch. „Aber du hast keine Tassen. So ist die Situation für uns.“