200 Jahre Fahrrad: Zwischen Höhenangst und Fuchsschwanz

Benjamin Huth hat kürzlich aufgerüstet. Kindersitz und allerlei Taschen mit nur einem Gepäckträger von einem Ort zum anderen zu bringen, war fast unmöglich. Darum hat Huth selbst einen zweiten Gepäckträger am Vorderrad angebracht. Der Historiker vom Deutschen Technikmuseum Berlin, der nur im Frühling und Sommer mit dem Rad unterwegs ist, hat sich auf Fahrräder spezialisiert. Auf ihre Geschichte, Innovationen, Trends. Und er kennt sich aus mit den Regeln, die sehr bald erlassen wurden, nachdem Fahrräder das erste Mal in den Städten auftauchten.

„Das muss man sich vorstellen: Radfahrer waren damals die schnellsten Verkehrsteilnehmer. Die waren um die 30 Kilometer pro Stunde schnell, ein Pferdefuhrwerk hatte gerade 10 bis 15 Kilometer pro Stunde drauf“, sagt er. „Die erste Meldung über Radfahrer in Berlin geht auf eine Zeitungsmeldung von 1869 zurück – da sind wohl nachts junge Männer auf dem Bürgersteig in der Nähe von Unter den Linden gefahren.“

Doch zu jener Zeit war das Radfahren in Berlin – wenn es denn überhaupt bekannt war – verboten. Erst in den 1880er-Jahren wurden die Radfahrer in den Verkehrsregelungen berücksichtigt, in Berlin nachweislich ab 1884. Außerdem war es vielerorts Vorschrift, sich als Radfahrer registrieren zu lassen und sogar ein Nummernschild an seinem Gefährt anzubringen.

Dabei hielt sich die Zahl der Radfahrer damals noch in Grenzen. Und das gut 70 Jahre nach Erfindung des Zweirads. Im Jahr 1817 hatte Karl Drais in Mannheim seine Laufmaschine vorgestellt, die Idee verbreitete sich nach Frankreich und England. Aber der Erfolg blieb aus. Die Maschine war zu teuer und viele Menschen wollten sich nicht auf ein Gefährt mit zwei Rädern verlassen. Der Durchbruch gelang 1867, als der Franzose Pierre Michaux ein Rad mit Pedalen vorstellte. Die Idee führte zu einem kleinen Boom in Europa, auch in Deutschland. Aber strikte Verkehrsregeln und schlechte Straßen ließen das Interesse schnell abflauen.

Wenige Jahre später eroberte das Hochrad die Herzen der Deutschen. Wer es sich leisten konnte und auffallen wollte, war damit unterwegs. Und je größer das Rad, desto schneller war man. „Es gab Räder, die waren bis zu drei Meter groß – die wurden aber nur für Wettbewerbe benutzt. Im Straßenverkehr waren sie bis 1,70 Meter hoch“, sagt Benjamin Huth.

Der 35-Jährige hat das Fahren mit einem Hochrad auch mal probiert. „Es ist nicht so schwierig, das Rad zu fahren – aber ich musste meine Angst überwinden, da hochzusteigen.“ Diese Vorsicht ist verständlich, denn damals sind viele Hochrad-Fahrer ums Leben gekommen. „Ist man damit in ein großes Schlagloch gefahren oder jemand hat einen Knüppel in die Speichen geworfen – was durchaus vorkam– dann sind die Radfahrer vornüber gestürzt, im schlimmsten Fall auf den Kopf“, erklärt Huth.

Radfahrer hatten keinen guten Ruf

Radfahrer hatten keinen guten Ruf, sie galten als Neureiche mit teuren Spielzeugen, wie Huth erzählt. Auch von Hunden wurden sie öfters attackiert. Aber die Radfahrer wussten sich zu wehren – mit Pistolen und Peitschen. Einige Exemplare hat etwa das Versandunternehmen Stukenbrok 1900 in ihrem Katalog angeboten.

Das beliebte aber gefährliche Hochrad wurde in den späten 1880er-Jahren vom Niederrad abgelöst. Etwa zur selben Zeit wurden Gangschaltungen und Luftreifen entwickelt, die eine Fahrt deutlich komfortabler machten. Während der Industrialisierung avancierten die zuvor hobbymäßig genutzten Zweiräder zu alltäglichen Fortbewegungsmitteln. „Sie waren für Arbeiter, die teils eine Stunde oder länger zu den Fabriken laufen mussten, eine große Erleichterung“, sagt der Historiker.

Doch den einfachen Rädern folgte ein spleeniger Trend: das Liegerad. „Durchgesetzt haben sich die Räder aber bis heute nicht. Obwohl man in der Liegeposition mehr Kraft zum Treten aufbaut“, sagt Huth. „Aber für den Stadtverkehr lohnt sich das nicht, eher für längere Wege, die man durchfahren kann.“ Doch die Faszination für die auffälligen Räder hielt über Jahrzehnte an. So findet sich in der Sammlung des Deutschen Technikmuseums ein Liegefahrrad aus der Werkstatt des DDR-Fahrradpioniers Paul Rinkowski. Es ist eins von 400 Rädern aus dem Bestand des Museums – davon werden in der Ausstellung aber lediglich 18 gezeigt. Es fehlt einfach Platz. In der Sammlung finden sich Originale und Nachbauten, mit Holzrädern und Gummireifen, gefertigt in den alten und neuen Bundesländern.

Mit der Motorisierung der Massen wurde das Fahrrad unbeliebt

Die Fahrradindustrie entwickelte sich in Ost und West unterschiedlich. In der alten Bundesrepublik ging sie durch das Wirtschaftswunder größtenteils kaputt, mit der Motorisierung der Massen wurde das Fahrrad unbeliebt. Es galt als Fortbewegungsmittel der einfachen Leute, Autos und Motorräder waren schließlich schneller. Doch ganz konnte man nicht drauf verzichten. „In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden Klappräder populär, die man problemlos im Kofferraum verstauen konnte“, sagt Huth.

Doch dann kam das Bonanzarad. Mit bananenförmigem Sattel, gebogenem Lenker und manchmal mit Fuchsschwanz als Accessoire. In den 1970ern- und 1980er-Jahren wurde der Bananensattel in der Bundesrepublik zum Kult. „Daraus entwickelte sich dann später das BMX. Das war besser für das Gelände geeignet“, sagt Huth. Das wahrscheinlich bekannteste BMX der Welt ist in „E.T. – der Außerirdische“ zu sehen. Da fliegt der kleine Junge mit dem gestrandeten Alien vorne im Gepäckkorb über eine Polizeiabsperrung und sogar über seine Stadt.

Doch auch solcher Hollywood-Ruhm ließ die Tüftler nicht ruhen. In bergigem Gelände hatte sich ein wiederkehrendes Problem gezeigt: Das Fahren war immer noch anstrengend. Um es einfacher zu machen, wurden Mountainbikes entwickelt, mit dicken Reifen, verstärkten Rahmen und raffinierten Schaltungen mit endlos vielen Gängen. Das entspannte Fahren ohne allzu große Mühe ist den deutschen Radlern offenbar wichtig geblieben. Die größten Zuwächse verzeichnen mittlerweile die E-Bikes.